Der Name der Rose
gewohnten unterirdischen Gang, den ich diesmal ohne aufzublicken durcheilte, da mich die vielen Gebeine in dieser Nacht allzu deutlich daran gemahnten, wie bald auch ich zu Staub zerfallen sein würde und wie eitel daher mein Stolz auf die Wohlgestalt meines Leibes gewesen war.
Als wir in die Kirche traten, erblickten wir einen Schatten vor dem Altar. Zuerst dachte ich, es sei Ubertin, doch es war der uralte Alinardus, der uns nicht gleich erkannte. Dann erklärte er uns, er habe nicht schlafen können und sei daher in die Kirche gegangen, um für den verschwundenen jungen Bruder zu beten (er wußte nicht einmal mehr den Namen). Er bete für seine Seele, falls er tot sei, und für seinen Leib, falls er irgendwo hilflos liege.
»Zu viele Tote«, sagte der Greis, »zu viele Tote . . . Aber so steht es geschrieben im Buch des Apostels: Bei der ersten Posaune kommt Hagel und Eis, bei der zweiten wird ein Dritteil des Meeres zu Blut – und habt ihr den ersten nicht im Eis gefunden und den zweiten im Blut? Bei der dritten Posaune fällt ein brennender Stern vom Himmel und stürzt in den Dritteil der Flüsse und Brunnen. Und dort, so sage ich euch, liegt unser dritter Bruder. Und zittert vor der vierten Posaune, denn es wird geschlagen sein der dritte Teil des Sonne, des Mondes und aller Sterne, so daß es fast vollkommen dunkel wird . . .«
Als wir die Kirche verließen, murmelte William nachdenklich, er frage sich, ob an den Worten des Alten nicht etwas Wahres sei.
»Aber dann müßte doch«, gab ich zu bedenken, »ein einziges teuflisches Hirn die drei Morde (vorausgesetzt, daß auch Berengar tot ist) geplant und anhand des Textes der Apokalypse arrangiert haben.
Dabei wissen wir doch, daß Adelmus aus eigenem Antrieb gestorben ist . . .«
»Das stimmt«, nickte William, »aber vielleicht hat sich dieses teuflische oder kranke Hirn durch den Freitod des armen Adelmus dazu anregen lassen, die beiden anderen derart symbolisch zu arrangieren. Und wenn das wahr ist, müßte Berengar in einem Fluß oder Brunnen liegen. Aber es gibt keine Flüsse oder Brunnen hier in der Abtei, jedenfalls keine, in denen jemand ertrinken oder ertränkt werden könnte . . .«
»Nein, Wasser gibt es hier nur im Badehaus«, nickte ich.
»Adson!« fuhr William auf. »Weißt du, was du da sagst? Ja, das könnte eine Idee sein. Das Badehaus!«
»Aber da hat man doch sicher schon nachgeschaut . . .«
»Freilich, aber ich habe heute morgen gesehen, wie die Knechte dort suchten: Sie machten nur kurz die Tür auf und schauten hinein, sie suchten nicht richtig, denn sie glaubten noch nicht, etwas gut Verstecktes finden zu müssen; sie erwarteten eine theatralisch drapierte Leiche wie die des Venantius im Bottich . . .
Rasch, laß uns hinübergehen, es ist zwar noch dunkel, aber ich glaube, unsere Lampe brennt noch ganz munter.« Wir taten es, eilten ins Badehaus hinter dem Hospital und öffneten ohne Schwierigkeiten die Tür.
Vor uns standen, aufgereiht und durch breite Vorhänge voneinander getrennt, große Wannen, ich weiß nicht mehr, wie viele. Die Mönchen benutzten sie zur Hygiene an den Tagen, da die Regel es vorschrieb, und Severin benutzte sie zu therapeutischen Zwecken, denn nichts ist beruhigender für den Leib und die Seele als ein Bad. In einer Ecke befand sich ein breiter Kamin, der das Wasser rasch zu erwärmen erlaubte, davor lag ein großer Kessel. Das Wasser holte man aus einem Brunnen in der anderen Ecke.
Wir sahen der Reihe nach in die Wannen. Sie waren fast alle leer. Nur die letzte hinter einem zugezogenen Vorhang war voll, und daneben lag ein zusammengeknülltes Kleidungsstück auf dem Boden.
Im ersten Moment erschien uns die Oberfläche des Wassers ungetrübt. Doch als wir die Lampe näher hinhielten, entdeckten wir auf dem Grunde der Wanne einen nackten menschlichen Körper. Wir zogen ihn heraus. Es war Berengar. Und dieser Tote, bemerkte William, sah wirklich wie ein Ertrunkener aus: das Gesicht aufgedunsen, der weiße und weiche Körper desgleichen. Er hätte, haarlos wie er war, der Körper einer Frau sein können, wenn man von dem obszönen Anblick der schlaffen männlichen Scham absah. Ich errötete, es überlief mich kalt, und ich bekreuzigte mich, während William den Toten segnete.
Vierter Tag
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Der Name der Rose – Dritter Tag
LAUDES
Worin die Untersuchung der Wasserleiche den sonderbaren Befund einer schwarzen Zunge ergibt, was William dazu veranlaßt, mit Severin ein Gespräch über tödliche
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