Der Name der Rose
dritten Finger! Vorgestern nahm ich an, Venantius hätte vielleicht im Skriptorium eine Tinte berührt . . .«
»Sehr interessant«, murmelte William, während er sich über Berengars Finger beugte. Es dämmerte gerade, das Licht war noch fahl, und mein Meister litt sichtlich unter dem Fehlen seiner Augengläser.
»Sehr interessant«, wiederholte er. »Der Daumen und der Zeigefinger sind an den Kuppen dunkel, der Mittelfinger nur an der Innenseite und etwas schwächer. Aber sieh mal, hier sind auch schwache Spuren an der linken Hand, jedenfalls auf Daumen und Zeigefinger . . .«
»Wäre es nur an der rechten, so würde ich sagen, er hielt einen kleinen oder langen und schmalen Gegenstand . . .«
»Wie zum Beispiel einen Stift. Oder einen Kuchen. Oder ein Insekt. Oder eine Schlange, eine Monstranz, einen Stock . . . zu viele Möglichkeiten. Aber da auch Spuren an der linken Hand sind, könnte es auch eine Schale gewesen sein: die rechte hielt sie, die linke stützte sie leicht . . .«
Severin rieb ein wenig an den Fingern des Toten, doch die dunkle Färbung blieb. Ich bemerkte, daß er sich Handschuhe angezogen hatte, die er vermutlich immer benutzte, wenn er mit giftigen Stoffen hantierte.
Er roch an den Fingern, schüttelte aber nur den Kopf. »Ich könnte dir viele Substanzen nennen, pflanzliche und mineralische, die solche Spuren hinterlassen. Manche davon sind tödlich, andere nicht. Die Miniaturenmaler zum Beispiel haben oft dunkle Finger vom Goldstaub . . .«
»Adelmus war Miniaturenmaler«, gab William zu bedenken.
»Vermutlich hast du angesichts seines zerschlagenen Körpers nicht daran gedacht, seine Fingerkuppen zu untersuchen. Aber könnte dieser hier nicht etwas angefaßt haben, was Adelmus gehörte?«
»Ich weiß nicht«, sagte Severin und schüttelte weiter den Kopf. »Zwei Tote, beide mit schwarzen Fingern
. . . Was schließt du daraus?«
»Nichts schließe ich daraus: Nihil sequiturgetninis ex particularibus unquam. Man müßte die beiden Fälle auf eine gemeinsame Regel zurückführen können. Zum Beispiel: Es gibt eine Substanz, die jedem, der sie berührt, die Finger schwärzt . . .«
Triumphierend beendete ich den Syllogismus: »Venantius und Berengar haben geschwärzte Finger, ergo haben sie diese Substanz berührt!«
»Bravo, Adson«, lächelte William. »Nur schade, daß deine Schlußfolgerung nicht gültig ist, denn aut semel aut herum medium generaliter esto, und in deinem Syllogismus erscheint der Mittelbegriff nie allgemeingültig. Ein Zeichen dafür, daß wir die Praemissa maior nicht richtig gewählt haben. Ich hätte nicht sagen dürfen: Jeder, der eine bestimmte Substanz berührt, hat schwarze Finger, denn es kann ja auch Menschen mit schwarzen Fingern geben, die diese Substanz nicht berührt haben. Ich hätte sagen müssen: Jeder, der schwarze Finger hat, und sonst niemand, hat mit Sicherheit eine gegebene Substanz berührt. Also Venantius und Berengar und so weiter . . . Womit wir einen Darii hätten, einen exzellenten Dritten Syllogismus der Ersten Figur.«
»Dann hätten wir also die Antwort!« rief ich befriedigt aus.
»Leider nicht, lieber Adson, du hast ein viel zu großes Vertrauen in die Syllogistik! Wir haben nur wieder die Frage. Will sagen, wir haben die Hypothese aufgestellt, daß Venantius und Berengar ein und dieselbe Substanz berührt haben müssen, und das ist zweifellos eine vernünftige Hypothese. Aber mit unserer Annahme, daß es eine Substanz gibt, die als einzige unter allen Substanzen dieses spezielle Ergebnis bewirkt (was noch zu verifizieren bleibt), wissen wir immer noch nicht, welche Substanz das ist und wo und warum die beiden sie berührt haben. Und aufgepaßt: wir wissen nicht einmal, ob sie den Tod der beiden verursacht hat. Stell dir vor, ein Verrückter hätte sich in den Kopf gesetzt, alle Menschen zu töten, die mit Goldpulver in Berührung gekommen sind. Würdest du dann wohl sagen, Goldpulver sei ein tödliches Gift?«
Verwirrt schüttelte ich den Kopf. Ich hatte bisher immer angenommen, die Logik sei eine universale Waffe, und jetzt mußte ich plötzlich erkennen, daß ihre Kraft und Gültigkeit davon abhängt, wie man sie einsetzt und gebraucht. Andererseits hatte mich das Zusammensein mit meinem Meister gelehrt (und sollte mich in den nächsten Tagen noch immer besser lehren), daß die Logik zu mancherlei Dingen nützlich sein kann, sofern man sie nur im rechten Moment beiseite läßt.
Severin, der gewiß kein guter Logiker war,
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