Der Name der Rose
Preis bemächtigen. Nun hat er sich seiner bemächtigt.
Malachias kannte seinen Mann sehr genau und hat das beste Mittel benutzt, um das Buch
247
Der Name der Rose – Fünfter Tag
zurückzubekommen und Bennos Lippen zu versiegeln. Du fragst jetzt vielleicht, wozu es gut sein soll, so große Wissensschätze zu hüten, wenn man nicht bereit ist, sie auch den anderen Forschenden zur Verfügung zu stellen. Doch eben darum sprach ich von Wollust. Von Wollust, Adson, die etwas anderes ist als der Erkenntnisdrang eines Roger Bacon, der die Wissenschaft in den Dienst der Menschen zu stellen trachtete und daher nicht nach Erkenntnis um ihrer selbst willen strebte. Bennos Wissensdurst ist bloß eine unstillbare Neugier, Hoffart des Geistes, eine von mehreren Arten für einen Mönch, die Gelüste seiner Lenden zu stillen in verwandelter Form, oder auch die Glut, die einen anderen zum Glaubenskämpfer macht, oder zum Ketzer. Es gibt nicht nur Wollust des Fleisches, Adson. Wollust ist auch, was Bernard empfindet, überzogene Lust an der Gerechtigkeit, die sich bei ihm mit Machtlust paart. Wollust am Reichtum empfindet unser heiliger und nicht mehr römischer Pontifex. Wollust am Zeugnisablegen, am Wandel, an Buße und Tod empfand Remigius in seiner Jugend. Und Wollust am Bücherlesen empfindet Benno. Sie ist wie alle Wollust – wie die des Onan, der seinen Samen zu Boden fallen ließ – eine sterile Lust, die nichts mit der Liebe zu tun hat, nicht einmal mit der fleischlichen . . .«
»Ich weiß«, entfuhr es mir unwillkürlich. William überhörte es, fuhr aber fort: »Wahre Liebe sucht das Wohl des geliebten Wesens.«
»Aber könnte es nicht sein, daß Benno durchaus das Wohl seiner Bücher sucht (denn nun sind es auch die seinen) und meint, ihr Wohl bestehe darin, vor raffgierigen Händen geschützt zu werden?« gab ich zu bedenken.
»Das Wohl eines Buches besteht darin, gelesen zu werden. Bücher sind aus Zeichen gemacht, die von anderen Zeichen reden, die ihrerseits von den wirklichen Dingen reden. Ohne ein Auge, das sie liest, enthalten sie nur sterile Zeichen, die keine Begriffe hervorbringen, und bleiben stumm. Vielleicht ist diese Bibliothek einst entstanden, um die Bücher, die sie enthält, zu schützen. Aber nun lebt sie, um die Bücher in sich zu begraben. Deshalb ist sie zum Herd des Frevels geworden. Remigius sagte heute, er sei ein feiger Verräter. Nichts anderes ist Benno. Er hat seine Überzeugung verraten. Oh, was für ein schlimmer Tag, lieber Adson! Voller Blut und Verderben! Für heute hab ich genug davon! Komm, laß uns zur Komplet gehen und dann schlafen.«
Vor der Küche trafen wir auf Aymarus. Er fragte uns, ob es wahr sei, was gemunkelt werde, daß Malachias Benno zu seinem Gehilfen auserwählt habe. Wir konnten es nur bestätigen.
»Der gute Malachias hat sich heute allerhand feine Sachen geleistet«, kommentierte Aymarus mit seinem gewohnten milde verächtlichen Grinsen. »Wenn es eine Gerechtigkeit gäbe, müßte ihn heute nacht der Teufel holen.«
248
Der Name der Rose – Fünfter Tag
FÜNFTER TAG
KOMPLET
Worin man einer Predigt über das Kommen des Antichrist lauscht und Adson die Macht der Namen entdeckt.
Der Vespergottesdienst war recht unruhig verlaufen, das Verhör des Cellerars war noch im Gange gewesen, viele Mönche hatten gefehlt, viele Novizen waren der Aufsicht ihres Meisters entschlüpft, um durch Fenster und Türspalt die Ereignisse im Kapitelsaal mitzubekommen. So war es nun höchste Zeit, daß die versammelte Bruderschaft für die Seele des toten Severin betete. Wir nahmen an, der Abt werde zur Komplet eine Predigt halten, und fragten uns, was er wohl sagen würde. Tatsächlich trat er nach der liturgischen Homilie des Sankt Gregor, dem Responsorium und den drei vorgeschriebenen Psalmen auf die Kanzel, doch nur um zu verkünden, daß er an diesem Abend schweigen werde. Zuviel Unheil sei über die Abtei hereingebrochen, sagte er, als daß der gemeinsame Vater jetzt, wie es erforderlich sei, im Tone des Tadels und der Ermahnung predigen könne. Alle ohne Ausnahme müßten sich einer strengen
Gewissensprüfung unterziehen. Da jedoch einer predigen müsse, schlage er vor, die Ermahnung des ältesten Mitbruders anzuhören, der, weil dem Tode am nächsten, von allen am wenigsten in jene irdischen Leidenschaften verstrickt sei, die soviel Unheil verursacht hätten. Dem Range des Alters entsprechend würde das Wort mithin Alinardus von Grottaferrata gebühren, doch alle
Weitere Kostenlose Bücher