Der Name der Rose
Vergeltung zu finden!«
»Hast du gehört, Adson?« flüsterte William mir zu. »Der Alte weiß mehr, als er sagt. Ob er seine Hände in dieser Geschichte drin hat oder nicht, er weiß Bescheid, und er warnt die Mönche: Wenn sie nicht aufhören, die Bibliothek zu verletzen, wird die Abtei nicht zur Ruhe kommen!«
Jorge ließ eine lange Pause eintreten. Dann sprach er weiter.
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Der Name der Rose – Fünfter Tag
»Wer aber ist der Inbegriff dieser Hoffart? Wessen Abbilder und Vorboten, Helfershelfer und Wegbereiter sind diese Hoffärtigen? Wer hat in Wahrheit gehandelt und wird womöglich noch weiter handeln in diesen Mauern, um uns kundzutun, daß die Zeit nicht mehr fern ist – und um uns damit auch zu trösten, denn wenn die Zeit nicht mehr fern ist, werden die Leiden zwar unerträglich sein, aber nicht endlos, geht doch der große Zyklus des Universums dann seinem Ende entgegen? Oh, ihr habt es sehr gut verstanden, ihr wißt es genau, und ihr furchtet euch, seinen Namen zu nennen, denn es ist auch der eure, und ihr habt Angst vor ihm! Doch mögt ihr auch Angst vor ihm haben, ich habe keine, und so sage ich denn mit lauter Stimme, auf daß eure Eingeweide sich wenden vor Schrecken und eure Zähne klappern, bis sie euch die Zunge abbeißen, auf daß euch das Blut in den Adern gerinne und sich über eure Augen ein dunkler Schleier lege . . . Es ist die Bestia immunda : der Antichrist!«
Er machte erneut eine lange Pause. Die Mönche saßen in ihrem Gestühl, als wären sie tot. Das einzige, was sich regte im weiten Kirchenraum, war die flackernde Flamme auf dem Dreifuß, doch selbst die Schatten, die sie warf, schienen erstarrt zu sein. Der einzige schwach vernehmbare Laut war das Keuchen Jorges, der sich den Schweiß von der Stirne wischte. Dann fuhr er fort.
»Vielleicht wollt ihr jetzt sagen: Nein, der ist noch nicht gekommen, wo sind die Vorzeichen seiner Ankunft? Toren, seid ihr mit Blindheit geschlagen? Wir haben sie doch tagtäglich vor Augen, die unheilverkündenden Katastrophen, im großen Amphitheater der Welt wie in ihrem verkleinerten Spiegelbild dieser Abtei . . . Es ward geweissagt: Wenn der Augenblick nahe ist, wird sich ein fremder König erheben im Westen, ein Herr von gewaltiger Arglist, gottlos, menschenmordend, betrügerisch und gerissen, versessen auf Gold, voller Schläue und Bosheit, ein Feind und Verfolger aller Gerechten, und man wird nicht länger achten des Silbers zu seiner Zeit, sondern nur noch dem Golde dienen! Ja, ja, ich weiß, ihr überlegt jetzt rasch, meine Zuhörer, und überschlagt im stillen, ob es der Papst sein könnte oder der Kaiser oder der König von Frankreich oder wer auch immer, der diesem Fürsten des Bösen gleicht, damit ihr dann sagen könnt: Er ist mein Feind, ich stehe auf seilen des Guten! Aber so dumm bin ich nicht, euch einen Menschen zu nennen, der Antichrist kommt, wenn er kommt, in allem und allen, und jeder hat Teil an ihm. Er kommt in den Horden, die Städte und Länder verwüsten, er kommt in unerwarteten Zeichen am Himmel, wenn plötzlich Regenbögen erscheinen und Hörner am Firmament und Blitze, gefolgt von grollendem Donner, während das Meer zu kochen beginnt! Man hat gesagt, die Menschen und Tiere werden Drachen gebären, doch damit wollte man sagen, daß die Herzen auf Hader und Zwietracht sinnen. Schaut nicht um euch, wenn ihr die Monster der Miniaturen finden wollt, die euch auf den Pergamenten ergötzen, schaut in eure Herzen! Man hat gesagt, junge Mütter werden Kinder gebären, die bei der Geburt schon vollendet sprechen können, um kundzutun, daß die Zeit reif ist und daß sie wünschten, getötet zu werden. Aber sucht nicht drunten im Tale nach ihnen, die frühreifen und zu klugen Kinder wurden bereits hier oben in diesen Mauern getötet! Und wie in den Weissagungen hatten sie schon das Aussehen greiser Männer, und wie in den Weissagungen waren sie Kinder mit vier Füßen, und Gespenster, und Ungeborene, die im Mutterleibe weissagen konnten mit Hilfe magischer Zaubersprüche. Jawohl, und dies alles steht geschrieben, wißt ihr das? Es steht geschrieben, daß großer Aufruhr sein wird unter den Ständen, unter den Völkern und in den Kirchen, daß falsche Hirten aufkommen werden, perverse, achtlose, habgierige, voller Sucht nach Vergnügen, Liebhaber des Gewinns, versessen auf eitles Gerede, prahlerisch, hochfahrend, verfressen, anmaßend, lüstern und geil, gefallsüchtig und überheblich, Feinde des Evangeliums, bereit, die
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