Der Name der Rose
stärken können, ohne soviel Zeit zu verlieren und sich monatelang in die Hand seines Feindes zu begeben, was seine Stellung im Orden nur schwächte . . . Aber vielleicht hatte die göttliche Vorsehung alles schon längst so beschlossen, und ehrlich gesagt, ich weiß heute nicht mehr, wer damals wirklich im Recht war, und nach so vielen Jahren erlischt auch das Feuer der Leidenschaft, zusammen mit dem, was man einst für das Licht der Wahrheit hielt. Wer von uns Heutigen könnte noch sagen, ob Hektor oder Achilles, Agamemnon oder der greise Priamos damals im Recht waren, als sie einander bekriegten um den Besitz einer schönen Frau, deren Asche nun längst zerstoben ist in alle Winde?
Doch ich verliere mich in melancholische Abschweifungen. Verzeih, mein geduldiger Leser, und laß mich das Ende jenes tristen Gesprächs im nebligen Kreuzgang berichten. Michael hatte, wie gesagt, seinen Beschluß gefaßt, und nichts konnte ihn mehr davon abbringen. Doch es gab noch ein zweites Problem, und William sprach es ohne Umschweife aus: Ubertin selbst war nicht mehr in Sicherheit! Die drohenden Worte, die Bernard an ihn gerichtet hatte, der Haß, den der Papst auf ihn nährte, die Tatsache, daß Ubertin –
während Michael immerhin eine Macht repräsentierte, mit der man verhandeln mußte – nur für sich selbst stand . . .
»Johannes will Michael an seinem Hofe sehen und Ubertin in der Hölle«, stellte William fest. »Wie ich Bernard kenne, besteht die akute Gefahr, daß Ubertin noch heute nacht, zumal wenn dieser Nebel anhält, ermordet wird. Und sollte morgen früh jemand fragen, von wem – nun, diese Abtei wird leicht noch ein weiteres Verbrechen ertragen können . . . Man wird sagen, es seien die Teufel gewesen, die Remigius mit seinen schwarzen Katzen beschworen hat, oder vielleicht ein weiterer Dolcinianer, der noch in diesen Mauern umgeht . . .«
Ubertin war beunruhigt. »Was rätst du mir?«
»Ich rate dir«, sagte William, »geh zum Abt, laß dir ein Reittier geben und Proviant und ein Empfehlungsschreiben an eine Abtei irgendwo im Norden, jenseits der Alpen, und nutze die Dunkelheit und den Nebel, um sofort aufzubrechen.«
»Werden die Bogenschützen nicht das Tor bewachen?«
»Die Abtei hat noch andere Ausgänge, und der Abt kennt sie. Es genügt, daß dich ein Knecht an einer der unteren Kehren mit einem Reittier erwartet, und wenn du hier irgendwo durch die Mauer verschwunden bist, brauchst du nur noch ein kurzes Stück durchs Gehölz zu gehen. Beeile dich, solange Bernard noch im Hochgefühl seines Sieges schwelgt. Ich muß mich um etwas anderes kümmern, ich hatte zwei Missionen, eine davon ist gescheitert, jetzt will ich zumindest die andere erfolgreich beenden. Ich muß ein Buch in die Hand bekommen – und einen Mann. Wenn alles gutgeht, bist du weg, bevor ich zurückkomme. Also leb wohl, Ubertin!« Er breitete die Arme aus, und Ubertin drückte ihn tief bewegt an sich. »Leb wohl, Bruder William, du bist ein närrischer und arroganter Engländer, aber du hast ein großes Herz. Sehen wir uns wieder?«
»Wir sehen uns wieder, so Gott will.«
Gott wollte es leider nicht. Wie ich bereits erwähnte, starb Ubertin von Casale wenige Jahre später unter geheimnisvollen Umständen in einer deutschen Stadt. Es war ein schweres und abenteuerliches Leben gewesen, das dieser glühende alte Kämpfer geführt hatte, und wenn er vielleicht auch kein Heiliger war, so hoffe ich doch, daß seine unerschütterliche Überzeugung, einer zu sein, von Gott belohnt worden ist. Je älter ich werde und je demütiger ich mich dem Willen Gottes beuge, desto weniger schätze ich die Wißbegier des Verstandes und den Willen zum Handeln – und desto klarer erkenne ich als einzigen Heilsweg den Glauben, der geduldig warten kann, ohne allzuviel Fragen zu stellen. Und Ubertin hatte gewiß viel Glauben an das Blut und den Kreuzestod Unseres Herrn.
Vielleicht dachte ich auch schon damals so, und der alte Mystiker spürte es, oder er ahnte, daß ich eines Tages so denken würde, jedenfalls umarmte er mich mit einem gütigen Lächeln, aber ohne die Glut, mit der er mich in den vergangenen Tagen zuweilen an sich gedrückt hatte. Er umarmte mich, wie ein Großvater seinen Enkel umarmt, und im gleichen Geiste erwiderte ich seinen Druck. Dann entfernte er sich mit Michael, um den Abt aufzusuchen.
»Was machen wir jetzt?« fragte ich William.
»Jetzt kümmern wir uns wieder um unsere Mordfälle.«
»Meister«, sagte ich, »heute
Weitere Kostenlose Bücher