Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Name der Rose

Der Name der Rose

Titel: Der Name der Rose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
Vom Netzwerk:
wüßten, wie gebrechlich die Gesundheit dieses verehrungswürdigen Mitbruders sei. Als nächster nach Alinardus gemäß der Ordnung des unerbittlichen Ablaufs der Zeiten komme Jorge von Burgos. Ihm erteile der Abt nun das Wort.
    Ein Raunen ging durch jenen Teil des Chorgestühls, wo gewöhnlich Aymarus und die anderen Italiener saßen. Vermutlich, so dachte ich mir, hatte der Abt den greisen Alinardus gar nicht erst gefragt, bevor er Jorge das Wort erteilte. William wies mich leise daraufhin, daß es eine sehr kluge Entscheidung des Abtes war, an diesem Abend nicht zu sprechen, wäre doch alles, was immer er auch gesagt hätte, von Bernard und den übrigen Avignonesern sehr genau registriert worden. Der alte Jorge hingegen würde sich wohl auf eine seiner mystischen Weissagungen beschränken, und dem würden die Avignoneser kein großes Gewicht beimessen. »Ich aber schon«, fugte William hinzu, »denn ich glaube nicht, daß Jorge eingewilligt, ja womöglich den Abt geradezu um das Wort gebeten hat, ohne ein bestimmtes Ziel zu verfolgen.«
    Jorge stieg auf die Kanzel, gestützt von einem Novizen. Sein Antlitz wurde erleuchtet von der einzigen Fackel, die das Kirchenschiff matt erhellte auf dem hohen Dreifuß im Chor. Das flackernde Licht betonte die Dunkelheit um seine Augenhöhlen, die wie zwei schwarze Löcher erschienen.
    »Verehrte Brüder«, begann er, »und ihr, unsere lieben Gäste, so wollet denn nun den Worten dieses armen Greises lauschen . . . Die vier Todesfälle, die unsere Abtei verdüstert haben – um nur von den Toten zu reden und nicht von den alten und neuen Sünden der Unseligsten unter den Lebenden – diese vier Todesfälle sind nicht, wie ihr wißt, den Härten der Natur zuzuschreiben, die unabänderlich in ihren Rhythmen unser irdisches Dasein regelt von der Wiege bis zur Bahre. Ihr alle denkt jetzt vielleicht, diese schmerzlichen Fälle, so sehr sie euch auch mit Trauer erfüllen, beträfen nicht eure Seelen, da ihr alle bis auf einen unschuldig wäret, und wenn dieser eine bestraft worden sei, bleibe euch zwar noch die Klage über den Fortgang der Dahingeschiedenen, aber von einer Anklage brauchtet ihr selbst euch nicht reinzuwaschen vor dem Throne des Herrn. So meint ihr. Narren!« rief Jorge mit Donnerstimme. »Narren und Pharisäer! Wer getötet hat, trägt die Last seiner Schuld vor Gott, doch nur weil er es hingenommen hat, sich zum Vollstrecker der Pläne Gottes zu machen. So wie es notwendig war, daß jemand Unseren Herrn Jesus verriet in Gethsemane, damit das Mysterium der Erlösung vollbracht werden konnte, und doch bestrafte der Herr mit Verdammnis und ewiger Schande den, der da verraten hatte, so hat auch in diesen Tagen hier jemand gesündigt, indem er uns Tod und Verderben brachte. Ich aber sage euch, dieses Verderben ist, wenn nicht von Gott gewollt, so doch zumindest zugelassen worden von Gott als Strafe für unsere Hoffart!«
    Er verstummte und ließ den leeren Blick über die dunkle Versammlung gleiten, als könne er mit den Augen ihre Gefühle erspähen. In Wahrheit genoß er jedoch mit den Ohren ihr betroffenes Schweigen.
    »In dieser Bruderschaft«, fuhr er fort, »züngelt seit langem die Natter der Hoffart. Doch welcher Hoffart?
    Der Hoffart des Spiels mit der Macht, hier in diesem weltabgeschiedenen Kloster? Gewiß nicht. Der Hoffart des Reichtums? Ach, meine Brüder, schon ehe die Welt widerhallte von langen Querelen über die Armut 249
    Der Name der Rose – Fünfter Tag
    und den Besitz, schon seit den Zeiten unseres heiligen Ordensgründers haben wir, auch wenn wir alles hatten, nie etwas besessen, stets war unser einziger wahrer Reichtum die Befolgung der Regel, das Gebet und die Arbeit. Doch zur Arbeit, zur Arbeit unseres Ordens und insbesondere dieses Klosters gehört – und zwar als ihr Wesenskern – das Studium und die Bewahrung des Wissens. Ich sage Bewahrung und nicht Erforschung, denn es ist das Proprium des Wissens als einer göttlichen Sache, daß es abgeschlossen und vollständig ist seit Anbeginn in der Vollkommenheit des Wortes, das sich ausdrückt um seiner selbst willen.
    Ich sage Bewahrung und nicht Erforschung, denn es ist das Proprium des Wissens als einer menschlichen Sache, daß es vollendet und abgeschlossen worden ist in der Zeitspanne von der Weissagung der Propheten bis zu ihrer Deutung durch die Väter der Kirche. Es gibt keinen Fortschritt, es gibt keine epochale Revolution in der Geschichte des Wissens, es gibt nur fortdauernde und

Weitere Kostenlose Bücher