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Der Name der Rose

Der Name der Rose

Titel: Der Name der Rose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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wären wir zwei Gespenster.«
    Keine sehr praktikable Lösung, so schien mir, doch ich schwieg. William wurde allmählich nervös. Wir verließen die Kirche durchs Nordportal und gingen über den Friedhof, wo heftige Windböen durch die Bäume heulten und ich zum himmlischen Vater flehte, er möge uns nicht zwei Gespenstern begegnen lassen, gab es doch in dieser Nacht keinen Mangel an friedlosen Seelen. Wir erreichten den Stall und hörten die Pferde unruhig schnauben wegen des Aufruhrs der Elemente. Am Haupttor des flachen, langgestreckten Gebäudes war in Brusthöhe ein Metallgitter, über welches man zu den Tieren hineinsehen konnte. Wir gewahrten im Dunkeln die Konturen der Pferde, und ich erkannte den Rappen Brunellus, denn er war der erste links. Das dritte Pferd in der Reihe hob den Kopf, als es unsere Anwesenheit bemerkte, und wieherte kurz. Ich mußte lachen. » Tertius equi «, sagte ich vor mich hin.
    »Was?« fragte William.
    »Nichts, mir ist nur gerade der arme Salvatore eingefallen. Er wollte mit diesem Pferd was weiß ich für einen verrückten Zauber anstellen, und er bezeichnete es in seinem komischen Küchenlatein als tertius equi
    . . . Das wäre das u . . .«
    »Das u ?« fragte William, der meinem Geplapper ohne besondere Aufmerksamkeit zugehört hatte.
    »Ja, weil tertius equi nicht ›das dritte Pferde‹ heißen würde, sondern ›der Dritte von Pferde‹, und der dritte Buchstabe von equus ist das u . Aber das ist bloß eine Kinderei . . .«
    William starrte mich an, und mir schien, soweit ich's im Dunkeln sehen konnte, als ob sich seine Züge erhellten. »Gott segne dich, Adson!« rief er aus. »Natürlich, suppositio materialis , der Satz ist de dicto aufzufassen und nicht de re . . . Was war ich doch blöde!« Er schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn, 284
    Der Name der Rose – Sechster Tag
    daß es klatschte und ich schon dachte, er hätte sich wehgetan. »Mein guter Junge, zum zweiten Mal spricht heute die Wahrheit aus deinem Munde, zuerst im Traum und jetzt im Wachen! Rasch, lauf in deine Zelle und hol die Lampen! Laß dich nicht sehen und komm gleich zurück zu mir in die Kirche! Los, frag nicht weiter, mach schnell!«
    Ich rannte los, ohne Fragen zu stellen. Die Lampen waren unter meiner Matratze, beide wohlgefüllt, denn ich hatte beizeiten vorgesorgt. Zündzeug trug ich bei mir. Ich drückte die beiden Geräte an mich und hastete in die Kirche.
    William stand unter dem hohen Dreifuß und studierte das Pergament mit den Aufzeichnungen des Venantius.
    »Adson«, empfing er mich aufgeregt, » primum et septimum de quatuor heißt nicht ›der Erste und Siebente der Vier‹, sondern ›von der Vier‹, von dem Wort quatuor !« Ich verstand nicht gleich, was er meinte, dann ging es mir auf wie eine Erleuchtung: » Super thronos viginti quatuor! Die Worte aus der Apokalypse! Die Inschrift über dem Spiegel!«
    »Los, beeilen wir uns!« drängte William. »Vielleicht können wir jemandem noch das Leben retten!«
    »Wem?« fragte ich, während er bereits die Schädel abtastete, um das Ossarium zu öffnen.
    »Einem, der es nicht verdient hat«, erwiderte er, und schon eilten wir mit flackernden Lichtern durch den unterirdischen Gang.
    Wie ich bereits geschildert habe, mußte man am anderen Ende nach ein paar Stufen eine hölzerne Tür aufdrücken und befand sich in der Küche hinter dem Kamin, direkt unter der Wendeltreppe zum Skriptorium. Genau als wir diese Tür nun öffnen wollten, hörten wir zu unserer Linken ein dumpfes Klopfen.
    Es kam aus der Mauer neben der Tür, wo die Reihe der Nischen mit den Schädeln und Knochen endete.
    Anstelle der letzten Nische war eine Wand aus großen quadratischen Blöcken um einen alten Grabstein mit eingeritzten, verwitterten Monogrammen. Das Klopfen und Pochen kam, wie es schien, von dahinter oder darüber, es erklang bald neben uns, bald über unseren Köpfen.
    Wäre dergleichen in der ersten Nacht geschehen, ich hätte sofort an die toten Mönche gedacht.
    Inzwischen erwartete ich mir Schlimmeres von den lebenden Mönchen. »Wer mag das sein?« fragte ich beklommen.
    William drückte die Tür auf und trat hinter den Kamin. Das Klopfen war weiter zu hören, es kam jetzt aus der Wand neben der Wendeltreppe, als säße jemand in der Mauer gefangen, beziehungsweise in dem engen Raum, der sich vermutlich zwischen der Küchenwand und der Außenmauer des Ostturms befand.
    »Da ist jemand eingeschlossen«, sagte William. »Ich habe mich immer

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