Der Name der Rose
tuscheln aufgeregt miteinander . . . Was ist los?«
»Der Teufel ist los«, sagte William seelenruhig. »Seit heute morgen sind alle Hauptverdächtigen tot.
Zuerst waren alle vor dem lasziven, dummen und treulosen Berengar auf der Hut, dann vor dem häresieverdächtigen Cellerar und schließlich vor dem ungeliebten und vielbeneideten Bibliothekar. Nun wissen sie nicht mehr, vor wem sie auf der Hut sein sollen, sie brauchen dringend einen Bösewicht oder Sündenbock, und jeder verdächtigt den anderen. Einige haben Angst, wie du zum Beispiel, andere haben beschlossen, jemandem Angst zu machen. Alle seid ihr entschieden zu aufgeregt. Adson, schau immer wieder mal nach dem Pferdestall. Ich gehe jetzt, um mich ein Stündchen hinzulegen.«
Ich hätte mich wundern sollen: Sich ein Stündchen hinzulegen, wenn einem nur noch wenige Stunden bleiben, das schien nicht gerade die klügste Entscheidung zu sein. Doch inzwischen kannte ich meinen Meister: Je entspannter sein Körper war, desto fieberhafter arbeitete sein Geist.
281
Der Name der Rose – Sechster Tag
SECHSTER TAG
VON VESPER BIS KOMPLET
Worin in kurzen Worten von langen Stunden der Wirrnis berichtet wird.
Es fällt mir schwer zu berichten, was in den folgenden Stunden geschah.
William war fort. Ich trieb mich in der Nähe des Pferdestalles herum, ohne jedoch etwas
Außergewöhnliches zu bemerken. Die Knechte versorgten die Tiere, die etwas unruhig waren wegen des starken Windes, aber sonst war alles ruhig.
Ich ging zum Vespergottesdienst. Alle saßen bereits auf ihren Plätzen, doch der Abt stellte fest, daß Jorge fehlte. Mit einer Handbewegung hieß er die Mönche warten. Benno solle den Fehlenden suchen. Benno war nicht da. Jemand meinte, er sei wohl gerade dabei, das Skriptorium für die nächtliche Schließung herzurichten. Der Abt erwiderte ärgerlich, es sei doch ausdrücklich festgelegt worden, daß Benno nichts zu verschließen habe, da er die Regeln nicht kenne. Aymarus erhob sich: »Wenn Eure Väterlichkeit erlaubt, gehe ich ihn holen . . .«
»Niemand hat dich darum gebeten!« fuhr der Abt ihn schroff an, und Aymarus setzte sich wieder, nicht ohne Pacificus einen vielsagenden Blick zuzuwerfen. Der Abt rief Nicolas, doch der war auch nicht da.
Etliche erinnerten ihn daran, daß Nicolas vom Vespergottesdienst dispensiert war, weil er zu dieser Stunde das Abendmahl vorbereiten mußte. Abbo tat eine ungehaltene Geste, sichtlich verärgert, daß alle sehen konnten, wie nervös er war.
»Ich will Jorge hier haben!« rief er gereizt. »Man gehe ihn suchen! Geh du!« befahl er dem Novizenmeister.
Jemand wies ihn daraufhin, daß auch Alinardus fehlte. »Das weiß ich«, schnaubte der Abt. »Es geht ihm nicht gut.« Ich saß hinter Petrus von Sant'Albano und hörte, wie er leise, in einem italienischen Dialekt, den ich halbwegs verstand, zu seinem Nachbarn Gunzo von Nola sagte: »Das glaube ich ihm aufs Wort. Vorhin nach dem Gespräch war der arme Alte ganz durcheinander. Abbo verhält sich wie die Hure von Avignon!«
Die Novizen wurden zunehmend unruhig, sie spürten mit der Feinfühligkeit unwissender Kinder die Spannung, die sich im Chor verbreitete, ganz wie auch ich sie spürte. Es vergingen ein paar lange Augenblicke betretenen Schweigens. Dann befahl der Abt, einige Psalmen zu singen, und nannte aufs Geratewohl drei, die aber nicht in der Regel für Vesper vorgesehen waren. Alle blickten einander an, dann setzten sie sich zurecht und begannen zu beten. Schließlich kam der Novizenmeister zurück, gefolgt von Benno, der gesenkten Hauptes seinen Platz einnahm. Jorge war weder im Skriptorium noch in seiner Zelle zu finden gewesen. Der Abt befahl, mit dem Gottesdienst zu beginnen.
Als er zu Ende war und die Mönche ins Refektorium strömten, ging ich zu William, um ihn zu holen. Er lag lang ausgestreckt, bekleidet und reglos, auf seiner Matte. Er sagte, er habe gar nicht gemerkt, wie die Zeit vergangen sei. Ich erzählte ihm kurz, was geschehen war. Er schüttelte nur den Kopf.
Auf der Schwelle zum Refektorium trafen wir Nicolas. Vor zwei Stunden hatte er Jorge zum Abt geführt.
William fragte ihn, ob der Alte sofort hineingegangen sei. Nein, sagte Nicolas, er habe lange vor der Tür warten müssen, da Alinardus und Aymarus noch dringewesen seien. Dann sei Jorge hineingegangen und eine Weile dringeblieben, während er, Nicolas, draußen auf ihn gewartet habe, und anschließend habe sich Jorge von ihm in die Kirche bringen lassen, die um diese
Weitere Kostenlose Bücher