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Der Name der Rose

Der Name der Rose

Titel: Der Name der Rose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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schaute mich unwillkürlich um. »Seine Statthalter sind bereits da, von ihm ausgesandt, wie Christus seine Jünger aussandte in die Welt. Sie verderben die Stätte Gottes, verführen mit List, Heuchelei und Gewalt! Es ist Zeit, daß der Herr seine Diener aussendet, Elias und Enoch, die er am Leben erhielt im irdischen Paradies, auf daß sie kommen, die neue Zeit zu verkünden im härenen Kleid und Buße zu predigen mit dem eigenen Beispiel und mit dem Wort . . .«
    »Sie sind schon gekommen, Ubertin«, sagte William und zeigte auf seine franziskanische Kutte.
    »Aber sie haben noch nicht gewonnen, und über ein kleines wird der Antichrist voller Wut befehlen, Enoch und Elias zu töten und ihre Leichen hinzuwerfen, auf daß ein jeder sie sehe und sich fürchte. So wie man mich töten wird . . .«
    Erschrocken dachte ich, als ich Ubertin so reden hörte, daß er einer Art göttlichem Wahn verfallen sei, und sorgte mich um seinen Verstand. Heute, da ich weiß, daß er wenige Jahre später in einer deutschen Stadt auf mysteriöse Weise ermordet wurde, und niemand hat je erfahren, von wem, packt mich noch größeres Entsetzen, denn offenbar sah Ubertin damals in die Zukunft.
    »Du weißt es, der Abt Joachim hat die Wahrheit gesprochen. Wir befinden uns in der sechsten Ära der Menschengeschichte, in welcher erscheinen werden zwei Antichristen, der mystische Antichrist und der wirkliche, und dies wird geschehen im sechsten Zeitalter, nachdem Franziskus gekommen ist, zu verkörpern in seinem Fleische die fünf Wunden des Gekreuzigten. Bonifaz war der mystische Antichrist, und Coelestins 43
    Der Name der Rose – Erster Tag
    Abdankung war nicht gültig. Bonifaz war das Tier, das aus dem Meere steigt und dessen sieben Häupter die Angriffe auf die sieben Todsünden sind und dessen zehn Hörner die Angriffe auf die Zehn Gebote, und die Kardinäle, die ihn umgaben, waren die Heuschrecken, deren Leib Apollyon ist! Doch die Zahl des Tiers, wenn du den Namen in griechischen Lettern liesest, ist Benedicti . . .«
    Ubertin blickte mich prüfend an, um zu sehen, ob ich verstanden hatte, und sprach mit erhobenem Finger: »Wisse, mein Sohn, Papst Benedikt XI. war der wirkliche Antichrist, das Tier, das aus der Erde steigt!
    Gott hat es zugelassen, daß dieses Ungeheuer an Laster und Frevel seine Kirche regierte, damit die Tugend seines Nachfolgers um so heller erstrahle . . .«
    »Aber, ehrwürdiger Vater«, wandte ich zaghaft ein, »sein Nachfolger ist Johannes!«
    Ubertin stutzte und wischte sich mit der Hand über die Stirn, als wollte er einen lästigen Traum verscheuchen. Er atmete schwer und schien müde. »Mag sein. Die Berechnungen waren falsch. Wir warten noch immer auf den Papa Angelicus . . . Doch unterdessen sind immerhin Franziskus und Domenikus gekommen.« Er hob die Augen zum Himmel und sprach wie im Gebet (doch ich war sicher, daß er eine Stelle aus seinem großen Buch über den Baum des Lebens rezitierte): » Quorum primus seraphico calculo purgatus et ardore celico inflammatus, totum incendere videbatur. Secundus vero verbo predicationis fecundus super mundi tenebras darius radiavit . . . Jawohl, wenn dies die Verheißungen sind, wird der Papa Angelicus sicher kommen.«
    »So sei es, Ubertin«, sagte William. »Einstweilen aber bin ich gekommen, um zu verhindern, daß der menschliche Kaiser vertrieben wird. Von deinem Papa Angelicus sprach auch Fra Dolcino . . .«
    »Nie wieder darfst du den Namen dieser Schlange aussprechen!« fuhr Ubertin auf, und zum ersten Mal sah ich ihn, der bisher so gefaßt wirkte, wutverzerrt. »Er hat die Worte Joachims von Fiore besudelt, er hat sie zur Quelle von Tod und Verderben gemacht! Er war der Abgesandte des Antichrist, wenn je es einen gab!
    Daß du so reden kannst, William, liegt nur daran, daß du in Wahrheit nicht an das Kommen des Antichrist glaubst, deine Lehrer in Oxford haben dich stets nur gelehrt, die Vernunft zu verehren, und dabei sind die prophetischen Kräfte deines Herzens verdorrt!«
    »Du irrst, Ubertin«, sagte William sehr ernst. »Du weißt, daß ich am meisten unter meinen Lehrern den großen Roger Bacon verehre . . .«
    ». . . der sich eitlen Träumen über Flugmaschinen hingab«, spottete Ubertin.
    ». . . der klar und deutlich über den Antichrist sprach, der die Vorzeichen seiner Ankunft in der Verderbnis der Welt erblickte und in der Schwächung der Weisheit. Allerdings lehrte er, daß es nur eine Art und Weise gibt, sich auf seine Ankunft vorzubereiten:

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