Der Name der Rose
kämpfenden Krieger, jene munter in ihre Hörner stoßenden Jäger? Und jene vielen Leiber an einem einzigen Kopf und jene vielen Köpfe an einem einzigen Leib?
Vierbeiner mit Schlangenhäuptern, Fische mit Vierbeinerköpfen, da ein Tier, das vorn ein Pferd zu sein scheint und hinten ein Ziegenbock, dort ein pferdeähnliches Wesen mit Hörnern, und so immer weiter!
Heutzutage ist es für einen Mönch ergötzlicher, die steinernen Bilder zu lesen anstatt die gelehrten Schriften, und die Werke von Menschenhand zu bewundern anstatt fromm zu meditieren über die Gesetze Gottes!
Schande, Schande über die Gier eurer Augen und euer Gelächter!«
Schweratmend hielt der Greis inne. Und ich bewunderte sein genaues Gedächtnis, hatte er doch, obwohl vielleicht schon seit Jahren erblindet, noch sämtliche Bilder im Kopf, deren Schändlichkeit er so lebhaft schilderte. Ja, mir kam der Verdacht, daß diese Bilder ihn seinerzeit sehr erregt haben mußten, als er sie sah, wenn er sie immer noch mit solcher Leidenschaft zu beschreiben vermochte. Doch es ging mir auch später in meinem Leben noch häufig so, daß ich die verführerischsten Schilderungen ausgerechnet in Texten jener höchst tugendsamen und standhaften Männer fand, die den Zauber ihrer verderblichen Wirkung am allerheftigsten brandmarkten. Was nur bezeugt, daß diese Männer von so großem Eifer für das Zeugnis der Wahrheit erfüllt sind, daß sie sich in ihrer Liebe zu Gott nicht scheuen, das Böse mit allen seinen verführerischen Reizen auszustatten, um die Menschen besser ins Bild zu setzen über die teuflische Art und Weise, wie es sie verzaubert. Und tatsächlich riefen die Worte des grimmen Jorge in mir eine große Lust hervor, die Tiger und Affen im Kreuzgang, den ich noch nicht bewundert hatte, zu betrachten. Aber Jorge unterbrach den Lauf meiner Gedanken, indem er von neuem zu sprechen anhob, diesmal etwas ruhiger.
»Unser Herr Jesus Christus bedurfte nicht solcher Narreteien, um uns den rechten Weg zu zeigen. Nichts in seinen Gleichnissen reizt uns zum Lachen oder zum Schaudern. Adelmus jedoch, den ihr heute als Toten beklagt, hatte Gefallen an den Monstern, die er ersann, er genoß ihre Ungeheuerlichkeiten so sehr, daß er die letzten Dinge, deren materielle Figur sie doch sein sollten, aus den Augen verlor. Und er durchlief alle, ich sage alle«, und seine Stimme wurde aufs neue ernst und drohend, »alle Wege der Schändlichkeit! Und dafür hat ihn Gott zu strafen gewußt.«
Ein lastendes Schweigen legte sich auf die Runde. Es war Venantius von Salvemec, der es zu durchbrechen wagte.
»Ehrwürdiger Jorge«, sagte er, »Eure Tugend macht Euch ungerecht. Zwei Tage bevor Adelmus starb, wart Ihr Zeuge eines gelehrten Disputes, der hier im Skriptorium stattfand. Adelmus legte großen Wert darauf, daß seine Kunst, trotz Darstellung wunderlicher und phantastischer Dinge, dem Ruhme Gottes diene als Mittel zur Erkenntnis der himmlischen Dinge. Bruder William hat vorhin die Lehre des Areopagiten über die Erkenntnis durch die Verzerrung erwähnt. Adelmus zitierte eine andere sehr große Autorität, nämlich den Doktor von Aquin, der gesagt hat, daß es richtig und gut sei, wenn die göttlichen Dinge mehr in Figuren gemeiner Körper dargestellt würden als in Figuren edler Körper. Erstens, weil die menschliche Seele dann leichter vom Irrtum befreit werde, denn so sei es evident, daß gewisse Eigenschaften nicht den göttlichen Dingen zugeschrieben werden können, was zweifelhaft wäre, wenn diese mit Hilfe edler irdischer Körper dargestellt würden. Zweitens, weil besagte Darstellungsweise angemessener sei für die Kenntnis Gottes, die wir auf Erden haben, denn er offenbare sich mehr in dem, was er nicht ist, als in dem, was er ist, weshalb uns die Ähnlichkeiten derjenigen Dinge, die sich am weitesten von Gott entfernen, zu einer exakteren Meinung über ihn führten, da wir nun wüßten, daß er über allem steht, was wir sagen und denken. Und drittens schließlich, weil durch diese Darstellungsweise die Dinge Gottes besser vor denen verborgen würden, die ihrer nicht würdig sind. Kurzum, es ging in jenem Disput darum, ob und wie man die Wahrheit durch überraschende Ausdrücke, treffende oder rätselhafte, zu erkennen vermag. Und ich wies darauf hin, daß sich auch im Werk des großen Aristoteles sehr klare Worte zu diesem Thema finden . . .«
55
Der Name der Rose – Erster Tag
»Ich erinnere mich nicht«, unterbrach ihn Jorge schroff. »Ich bin
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