Der Name der Rose
sehr alt. Ich erinnere mich nicht.
Vielleicht bin ich allzu streng gewesen. Es ist spät geworden, ich muß gehen.«
»Ich wundere mich, daß Ihr Euch nicht erinnert«, beharrte Venantius. »Es war ein gelehrter und schöner Disput, in den auch Benno und Berengar eingriffen. Es ging um die Frage, ob die Metaphern und Rätsel und Wortspiele, die von den Dichtern anscheinend zum bloßen Vergnügen ersonnen werden, nicht zu neuen und überraschenden Spekulationen über die Dinge anregen können, und ich sagte, daß auch dies eine Tugend sei, die man vom Weisen verlange . . . Und auch Malachias . . .«
»Wenn der ehrwürdige Jorge sich nicht erinnern kann, so respektiere gefälligst sein Alter und die Ermüdung seines Geistes . . . der ansonsten sehr lebhaft ist«, warf einer der Mönche ein. Er hatte voller Erregung gesprochen, zumindest am Anfang, denn als er merkte, daß er, um zur Achtung vor dem Alter aufzurufen, de facto auf eine der Schwächen des Alters verwies, hatte er den Impetus seiner Worte rasch gezügelt, so daß sein Einwurf schließlich mit einer fast hingehauchten Entschuldigung endete. Es war Berengar von Arundel, der Adlatus des Bibliothekars, der so gesprochen hatte. Ein junger Mönch mit bleichem Gesicht, bei dessen Anblick mir unwillkürlich in den Sinn kam, was Ubertin von dem toten Adelmus gesagt hatte: Seine Augen glichen den Augen eines lüsternen Weibes. Eingeschüchtert von den Blicken der Umstehenden, die sich alle ihm zugewandt hatten, drehte und wand er die Hände wie einer, der eine innere Spannung zu unterdrücken versucht.
Einzigartig war die Reaktion des Venantius. Er fixierte Berengar streng, so daß dieser die Augen niederschlug, und sagte: »Schon recht, Bruder. Wenn das Gedächtnis ein Geschenk Gottes ist, so kann auch die Fähigkeit zu vergessen eine kostbare Gabe sein, die Achtung verdient. Aber ich achte sie nur bei dem ehrwürdigen Mitbruder, zu dem ich soeben sprach. Von dir hätte ich eine lebhaftere Erinnerung an die Dinge erwartet, die damals passiert sind, als wir hier standen, zusammen mit einem deiner liebsten Freunde
. . .«
Ich könnte nicht sagen, ob Venantius den Worten »deiner liebsten« besonderen Nachdruck gegeben hatte. Tatsache ist jedoch, daß sich plötzlich eine allgemeine Verlegenheit über die Runde senkte. Jeder blickte in eine andere Richtung, und niemand schaute auf Berengar, der heftig errötete. Schließlich griff Malachias ein und sagte mit Entschiedenheit: »Kommt, Bruder William, ich werde Euch noch einige andere interessante Bücher zeigen.«
Die Gruppe löste sich auf. Ich konnte gerade noch sehen, wie Berengar dem Venantius einen grollenden Blick zuwarf, den dieser mit stummer Herausforderung zurückgab. Zugleich aber sah ich, daß der alte Jorge sich zurückziehen wollte, und bewegt von einem spontanen Impuls, ihm meine Verehrung zu bezeugen, neigte ich mich, um seine Hand zu küssen. Der Alte nahm meinen Kuß entgegen, legte mir die Hand auf den Kopf und fragte, wer ich sei. Als ich ihm meinen Namen nannte, erhellte sich sein Gesicht.
»Du trägst einen großen und schönen Namen«, sagte er. »Weißt du, wer Adson von Montier-en-Der war?« Ich gestand, daß ich es nicht wußte. Woraufhin Jorge erklärte: »Er war der Autor eines großen und erschütternden Buches, des Libellus de Antichristo , in welchem er Dinge sah, die eines Tages geschehen werden. Doch er fand kaum Gehör . . .«
»Das Buch wurde vor der Jahrtausendwende geschrieben«, sagte William, »und seine Voraussagen haben sich nicht erfüllt . . .«
»Nur für jene nicht, die keine Augen haben zu sehen«, sagte der Blinde. »Die Wege des Antichrist sind langwierig und verschlungen. Er kommt, wenn wir ihn am wenigsten erwarten – und nicht, weil die Berechnungen falsch wären, die der Apostel uns nahegelegt, sondern weil wir nicht gelernt haben, sie zu deuten.« Und mit donnernder Stimme rief er, das Antlitz zum Saale gewandt, so daß die Deckengewölbe erbebten: »Er ist schon im Kommen! Vergeudet nicht eure letzten Tage mit Lachen über die albernen kleinen Monster mit scheckigem Fell und gewundenen Schwänzen! Nutzet die letzten sieben Tage!«
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Der Name der Rose – Erster Tag
ERSTER TAG
VESPER
Worin der Rest der Abtei besichtigt wird und William erste Schlußfolgerungen über den Tod des Adelmus zieht sowie mit dem Bruder Glaser spricht, erst über Lesegläser und dann über die Hirngespinste der allzu Lesebegierigen.
In diesem Augenblick läutete es zur
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