Der Name der Rose
Werkstatt auch Glas geblasen werde, während vorn, wo wir die Handwerker aufräumen sahen, die Scheiben in bleierne Fassungen eingesetzt würden, um Fenster daraus zu machen. Allerdings, so fugte er traurig hinzu, sei das große Werk der Glaskunst, das der Kirche und dem Aedificium ihren Glanz verleihe, bereits vor mindestens zweihundert Jahren vollendet worden, und heute beschränke man sich auf kleinere Arbeiten sowie auf Reparaturen der im Laufe der Zeit entstandenen Schäden.
»Und glaubt mir, das ist sehr mühsam«, versicherte er, »denn es gelingt uns nicht mehr, die Farben von einst zu finden, besonders das Blau, das ihr noch im Chor bewundern könnt und dessen Klarheit so herrlich ist, daß es die Kirche bei hohem Sonnenstand mit einem geradezu paradiesischem Licht erfüllt. Die Fenster im Westteil der Kirche, die wir erst vor kurzem erneuern mußten, sind längst nicht so gut geworden. Es hat keinen Zweck mehr«, seufzte er traurig, »wir haben nicht mehr das Können der Alten, die Zeit der Riesen von einst ist vorbei!«
»Ja, wir sind Zwerge«, nickte William, »aber Zwerge, die auf den Schultern der Riesen von einst sitzen, und so können wir trotz unserer Kleinheit manchmal weiter sehen als sie.«
»Was, sag mir, was können wir besser als sie?« rief Nicolas aus. »Wenn du hinuntersteigst in die Krypta der Kirche, wo der Klosterschatz aufbewahrt wird, findest du dort Reliquienschreine von so unendlich feiner Machart, daß dieses elende Ding hier, das ich erbärmlich zusammenbastle« – mit einer verächtlichen Handbewegung zeigte er auf sein Werkstück – »dagegen wie plumper Hohn erscheint!«
»Nirgendwo steht geschrieben, daß fähige Glasermeister immer nur Kirchenfenster und
Reliquienschreine herstellen müssen, wenn die Meister von einst so treffliche und gewiß auch noch für Jahrhunderte dauerhafte zu machen verstanden. Sonst würde die Welt bald voller Reliquienschreine sein, und das in einer Zeit, da die Heiligen, aus denen man Reliquien gewinnt, so rar geworden sind«, lächelte William tröstend. »Auch braucht man nicht immer nur Fenster zu reparieren. Ich habe in anderen Ländern Dinge aus Glas gesehen, die an eine Welt von morgen denken lassen, in welcher das Glas nicht nur im Dienst der Verehrung Gottes und seiner Kirche stehen wird, sondern auch im Dienst der Menschen, um ihnen zu helfen, ihre Schwächen zu überwinden. Ich möchte dir gern ein Werk unserer Tage zeigen, von dem ich mich glücklich schätze, ein überaus nützliches Exemplar zu besitzen.« Mit diesen Worten griff William in seine Kutte und zog zur Verblüffung unseres wackeren Meisters seine Augengläser hervor.
Nicolas nahm das Gerät, das William ihm reichte, mit großer Neugier in beide Hände. » Oculi de vitro cum capsula! « rief er bewundernd aus. »Ich habe davon schon gehört. Ein gewisser Fra Giordano, den ich früher einmal in Pisa kannte, sagte mir damals, sie seien vor etwa zwanzig Jahren erfunden worden. Aber das ist mehr als zwanzig Jahre her.«
»Ich glaube, daß die Erfindung viel älter ist«, sagte William. »Aber die Herstellung ist sehr schwierig und verlangt erfahrene Hände. Sie kostet Zeit und Arbeit. Vor zehn Jahren wurde in Bologna ein Paar dieser vitrei ab oculis ad legendum für sechs Silbergroschen verkauft. Ich hatte damals bereits ein Paar, das mir ein großer Meister, Salvino degli Armati, vor über zehn Jahren geschenkt hatte, und ich habe diese kostbaren Gläser während der ganzen Zeit so sorgsam gehütet, als wären sie – was sie inzwischen tatsächlich geworden sind
– ein Teil meines Körpers.«
»Ich hoffe, du läßt sie mich irgendwann dieser Tage einmal genauer untersuchen. Es würde mir nicht mißfallen, ähnliche herzustellen«, sagte Nicolas aufgeregt.
»Gewiß«, erwiderte William. »Aber bedenke, daß die Form und Dicke der Linsen verschieden sein muß, je nachdem, an welches Auge sie sich anpassen sollen. Man muß eine ganze Reihe von Linsen direkt am Patienten ausprobieren, bevor man die richtigen für ihn gefunden hat.«
»Wahrlich ein Wunder, ein echtes Wunder!« staunte Nicolas, immer noch ganz ergriffen. »Und doch werden viele, wenn sie das sehen, von Hexerei und Teufelswerk sprechen . . .«
»Sicher kann man bei diesen Dingen auch von Magie sprechen«, gab William zu. »Doch es gibt zwei Arten von Magie. Die eine ist Teufelswerk und zielt darauf ab, die Menschen durch Machenschaften, von denen zu sprechen sich nicht geziemt, zu zerstören. Die andere
Weitere Kostenlose Bücher