Der Name der Rose
aber ist Gottes Werk, und sie liegt immer dann vor, wenn die göttliche Weisheit sich in der menschlichen Wissenschaft ausdrückt mit dem Ziel, die Natur zu verändern und das Leben der Menschen zu verlängern. Dies ist zweifellos eine heilige Magie, der die Wissenschaftler sich mehr und mehr zuwenden sollten. Nicht nur um Neues zu entdecken, sondern auch um die vielen Geheimnisse der Natur wieder freizulegen, die Gottes Weisheit bereits den Juden und Griechen und anderen antiken Völkern offenbart hatte und die Gott auch heute noch manchen Ungläubigen offenbart (du glaubst gar nicht, wie viele Wunderdinge der Optik oder der Wissenschaft vom Sehen sich in 58
Der Name der Rose – Erster Tag
den Schriften der Ungläubigen finden!). All diese Kenntnisse muß eine christliche Wissenschaft sich wieder aneignen und sich gewissermaßen zurückholen von den Heiden und Ungläubigen tamquam ab iniustis possessoribus .«
»Aber warum lassen dann diejenigen«, fragte Nicolas interessiert, »die bereits im Besitz dieser Wissenschaft sind, nicht das ganze Gottesvolk an ihr teilhaben?«
»Weil nicht das ganze Gottesvolk reif ist für so viele Geheimnisse«, antwortete mein Meister. »Und es ist ja auch oft schon geschehen, daß die Inhaber dieser Wissenschaft mit dämonischen Magiern verwechselt wurden, mit Leuten, die sich dem Teufel verschrieben hatten und nun mit ihrem Leben bezahlen mußten für ihren Wunsch, die anderen teilhaben zu lassen an ihrem Wissensschatz. Ich selber mußte mich in meiner früheren Tätigkeit bei Prozessen, bei denen es um den Verdacht des Umgangs mit dem Dämon ging, oft sorgsam vor dem Gebrauch dieser Linsen hüten und mir die Akten von Sekretären vorlesen lassen, um nicht in einer Zeit, in der die Präsenz des Teufels so nahe schien, daß alle schon sozusagen den Schwefel rochen, der Komplizenschaft mit dem Angeklagten verdächtigt zu werden. Im übrigen hat schon der große Roger Bacon zu Recht darauf hingewiesen, daß nicht alle Geheimnisse der Wissenschaft in alle Hände gelangen dürfen, da einige sie für üble Zwecke mißbrauchen könnten. Oft muß der Wissende Bücher als magisch ausgeben, die gar nicht magisch sind, sondern durchaus von guter Wissenschaft, um sie vor indiskreten Augen zu schützen.«
»Dann fürchtest du also, daß die Laien schlechten Gebrauch von diesen Geheimnissen machen könnten?« wollte Nicolas wissen.
»Bei den Laien fürchte ich nur, daß sie sich von ihnen erschrecken lassen und sie mit jenem Teufelswerk verwechseln, von dem unsere Prediger allzuoft sprechen. Stell dir vor, ich habe sehr tüchtige Ärzte gekannt, die hervorragende Medizinen zu mischen wußten, mit denen sie schlimme Krankheiten unverzüglich zu heilen vermochten. Aber den Laien verabreichten sie ihre Salben und Säfte nur unter Rezitation von heiligen Worten und Sprüchen, die wie Gebete klangen. Nicht weil diese Sprüche irgendeine heilende Kraft gehabt hätten, sondern damit die Patienten glaubten, während sie das Zeug schluckten oder sich damit einreiben ließen, daß die Heilung durch die Gebete käme, so daß sie gesund wurden, ohne allzusehr auf die Medikamente zu achten. Außerdem hat der Körper, wenn die Seele auf rechte Weise zum Vertrauen in die fromme Formel gebracht wird, mehr Aufnahmebereitschaft für die heilende Wirkung der Medikamente. Oft jedoch müssen die Schätze der Wissenschaft nicht so sehr vor den Laien verborgen werden als vielmehr vor den anderen Wissenschaftlern. Heutzutage werden Wundermaschinen gebaut, von denen ich dir eines Tages erzählen werde, Wundermaschinen, sage ich dir, mit denen man effektiv und realiter den Lauf der Natur zu ändern vermag. Doch wehe, wenn sie in die Hände von Leuten fallen, die sie zur Ausweitung ihrer irdischen Macht benutzen oder zur Befriedigung ihrer Besitzgier! In Kathai, so ist mir berichtet worden, soll es einem Weisen gelungen sein, ein Pulver herzustellen, das bei Berührung mit Feuer einen gewaltigen Knall und eine große Flamme hervorbringt und alle Dinge im Umkreis von vielen Klaftern zerstört. Ein treffliches Mittel, wenn es zur Urbarmachung des Bodens benutzt wird, etwa um Flüsse umzuleiten oder um Felsbrocken zu zertrümmern. Was aber, wenn es jemand benutzt, um seinen persönlichen Feinden zu schaden?«
»Das wäre vielleicht gar nicht so schlecht, wenn es sich um Feinde des Gottesvolkes handelt«, meinte Nicolas fromm.
»Ja, vielleicht«, nickte William. »Aber wer ist heute der Feind des Gottes Volkes? Ludwig
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