Der Name der Rose
Allwissenheit sicher schon wußte, was wir Christen alles anstellen würden . . . Aber schau, wir sind da.«
In der Tat, der Gang war zu Ende, Gott sei Dank. Wir erklommen erneut eine Reihe von Stufen, drückten oben eine schmale, mit Eisenbändern beschlagene Holztüre auf und fanden uns hinter dem großen Kamin in der Küche, genau unter der Wendeltreppe, die zum Skriptorium führte. Als wir sie hinaufstiegen, schien uns plötzlich, als hörten wir über uns ein Geräusch.
Wir verharrten einen Moment lang reglos, dann sagte ich: »Unmöglich! Niemand ist vor uns hier eingedrungen . . .«
»Vorausgesetzt, dies hier ist der einzige heimliche Zugang«, flüsterte William. »In früheren Jahrhunderten war das Aedificium eine Felsenburg, es gibt hier wahrscheinlich mehr Geheimgänge, als wir wissen. Gehen wir vorsichtig weiter, es bleibt uns gar keine andere Wahl. Wenn wir das Licht löschen, sehen wir nichts, und wenn wir es brennen lassen, sieht uns der Unbekannte, falls sich dort oben einer befindet.
Unsere einzige Hoffnung ist, daß er mehr Angst vor uns hat als wir vor ihm.«
Wir traten aus dem Südturm und waren im Skriptorium. Der Tisch des Venantius befand sich genau am anderen Ende des Saales. Unsere Lampe vermochte in dem weiten Raum nur wenige Ellen weit zu leuchten, und während wir uns zwischen den Pfeilern und Tischen hindurchtasteten, hofften wir, daß niemand draußen im Hof war, der den Lichtschein in den Fenstern erblickte. Venantius' Tisch schien unberührt. Doch als William niederkniete, um das flache Regal zu durchforschen, entfuhr ihm ein enttäuschter Ausruf.
»Fehlt etwas?« fragte ich.
»Heute morgen habe ich hier zwei Bücher gesehen, eins davon war griechisch. Das ist jetzt nicht mehr da. Jemand hat es weggenommen, anscheinend in großer Hast, denn schau mal, hier ist ein Blatt auf den Boden gefallen.«
»Aber der Tisch war doch bewacht . . .«
»Gewiß. Vielleicht hat ihn jemand erst vor kurzem durchsucht. Vielleicht ist dieser Jemand noch hier.«
William stand auf, drehte sich um und rief laut in den dunklen Saal: »Wenn du hier bist, sei auf der Hut!«
Das war eine gute Idee, fand ich, denn William hatte ganz recht: Es ist immer besser, wenn der Unbekannte, der uns Angst macht, mehr Angst vor uns hat als wir vor ihm.
William legte das Blatt, das er auf dem Boden gefunden hatte, vorsichtig auf den Tisch und beugte sich darüber. Er bat mich, mit der Lampe näherzukommen, und als ich das tat, sah ich einen Pergamentbogen, der oben leer war und ungefähr ab der Mitte bedeckt mit winzigen Lettern, die mich an ein mir vage bekanntes Alphabet erinnerten.
»Griechisch?« fragte ich.
»Ja, aber ich kann es nicht gut erkennen.« William zog seine Augengläser hervor und setzte sie rittlings auf seine Nase. Dann beugte er sich noch tiefer über die Schrift.
»Es ist Griechisch, aber sehr klein und sehr schwer zu lesen. Auch mit den Linsen kann ich es kaum entziffern. Ich brauchte mehr Licht. Komm noch etwas näher . . .«
Er hatte das Pergament in die Hand genommen und hielt es sich dicht vor die Augen. Anstatt ihm über die Schulter zu leuchten, trat ich törichterweise direkt vor ihn hin. Er sagte, ich solle ihm von der Seite leuchten, und als ich das gerade tun wollte, berührte die Flamme versehentlich das Pergament. William gab mir einen Stoß, fragte ärgerlich, ob ich das Blatt verbrennen wollte – und tat gleich darauf einen erstaunten Ausruf: Auf der leeren oberen Hälfte des Bogens erschienen undeutlich Zeichen von bräunlicher Farbe.
William nahm die Lampe und bewegte sie vorsichtig hinter dem Bogen hin und her, wobei er die Flamme so hielt, daß sie das Pergament erwärmte, aber nicht versengte. Langsam, als schriebe eine unsichtbare Hand die Worte Mene , Tekel , Ufarsin , erschienen auf der weißen Vorderseite des Bogens Zug um Zug, wie William die Lampe bewegte, während der dünne Rauch aus dem spitzen Ende der Flamme die Rückseite schwärzte, seltsam geformte Zeichen, die mich an keinerlei auch nur vage bekanntes Alphabet erinnerten, es sei denn ein negromantisches.
»Phantastisch!« rief William aus. »Es wird immer interessanter!« Er sah sich um. »Aber zeigen wir diese Entdeckung lieber nicht unserem mysteriösen Besucher, wenn er noch da ist . . .« Er nahm sich die Gläser 102
Der Name der Rose – Zweiter Tag
ab, legte sie auf den Tisch, rollte das Pergament sorgfältig zusammen und schob es in seine Kutte. Noch ganz benommen von dieser Abfolge wahrhaft
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