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Der Name der Rose

Der Name der Rose

Titel: Der Name der Rose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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Arbeit beobachtet und versucht, sich dem Tisch des Venantius zu nähern, um seine Inspektion fortzusetzen.
    Doch aus welchen Gründen auch immer, dauernd sei er dabei gestört worden. Erst sei Malachias gekommen, um ihm einige kostbare Miniaturen zu zeigen, dann habe Benno unter allerlei nichtigen Vorwänden seine Aufmerksamkeit beansprucht, und als er sich gerade niedergekniet habe, um das flache Regal unter dem ominösen Tisch zu inspizieren, sei Berengar aufgetaucht mit der dummen Frage, ob er ihm irgendwie behilflich sein könne.
    Schließlich habe Malachias, als er sah, daß William nun ernstlich begann, sich mit Venantius' Büchern zu beschäftigen, klar und deutlich gesagt, er solle doch lieber zuerst die Erlaubnis des Abtes einholen; er selbst, obwohl er doch immerhin der Bibliothekar sei, habe sich diszipliniert und respektvoll zurückgehalten, niemand habe sich bisher dem Tisch genähert, William könne da ganz beruhigt sein, und es werde sich auch niemand nähern, ehe der Abt nicht entschieden habe, was weiter geschehen solle. Auf Williams Hinweis, daß der Abt ihn ermächtigt habe, sich frei und ungehindert in der ganzen Abtei zu bewegen, habe Malachias nur mit der maliziösen Frage geantwortet, ob diese Ermächtigung etwa auch für das Skriptorium gelte oder gar, Gott behüte, für die Bibliothek. William sei daraufhin zu der Einsicht gelangt, daß es in diesem Augenblick wohl nicht ratsam wäre, sich auf eine Kraftprobe mit Malachias einzulassen, obwohl natürlich all dieses Hin- und Hergezerre um die Bücher des Toten sein Interesse an ihnen nur noch gesteigert habe.
    Doch da er nun fest entschlossen sei, in der Nacht erneut ins Skriptorium zurückzukehren, wenn er auch noch nicht wisse, wie, habe er keine weiteren Zwischenfälle mehr provozieren wollen, erklärte er mir.
    Allerdings war ihm dabei anzusehen, daß er heftige Rachegedanken hegte, die man, wären sie nicht von reinem Streben nach Wahrheit beseelt gewesen, wohl hätte tadelnswert finden können.
    Bevor wir uns zur gemeinsamen Abendmahlzeit ins Refektorium begaben, machten wir noch ein paar Schritte im Kreuzgang, um die kühle Abendluft zu genießen. Einige Mönche wandelten dort meditierend umher. Im Garten vor dem Kreuzgang stießen wir auf den uralten Alinardus von Grottaferrata, der seine Tage, geschwächt an Körper und Geist, wie er war, gewöhnlich bei den Pflanzen verbrachte, wenn er nicht gerade zum Gebet in der Kirche weilte. Er schien nicht zu frieren und saß auf einer steinernen Bank vor dem Laubengang in der Abendsonne.
    William grüßte ihn freundlich, und der Alte lächelte, sichtlich erfreut, daß jemand Notiz von ihm nahm.
    »Schöner Abend heute«, sagte William.
    »Dank der Güte des Herrn«, gab der Alte zurück.
    »Der Himmel ist klar, aber die Erde hat sich verdüstert. Kanntet Ihr Venantius gut?«
    »Venantius, wer ist das?« fragte der Alte, doch dann erhellten sich seine Züge. »Ach ja, der Junge, der nun tot ist. Das Tier geht um in der Abtei.«
    »Welches Tier?«
    »Das große Tier, das aus dem Meer steigt . . . Sieben Häupter und zehn Hörner und auf seinen Hörnern zehn Kronen und auf seinen Häuptern drei Namen der Lästerung. Das Tier, das einem Parder gleicht, mit Füßen wie Bärenfüßen und einem Maule wie eines Löwen Maul . . . Ich hab's gesehen.«
    »Wo habt Ihr es gesehen? In der Bibliothek?«
    »Bibliothek? Wieso? Seit Jahren gehe ich nicht mehr ins Skriptorium, und nie war ich in der Bibliothek.
    98
    Der Name der Rose – Zweiter Tag
    Niemand geht in die Bibliothek. Ich kannte die, die hinaufgingen . . .«
    »Wen meint Ihr? Malachias? Berengar?«
    »Oh, nein . . .«, der Alte lachte glucksend. »Früher. Den Bibliothekar vor Malachias, vor vielen Jahren . . .«
    »Wer war das?«
    »Ich weiß nicht mehr, er starb, als Malachias jung war. Ich kannte auch den vor Malachias' Lehrer. Er war Adlatus, als ich jung war . . . Aber nie habe ich einen Fuß in die Bibliothek gesetzt. Labyrinth . . .«
    »Die Bibliothek ist ein Labyrinth?«
    » Hunc mundum tipice laberinthus denotat ille «, rezitierte der Greis versunken. » Intranti largus, redeunti sed nimis artus . Die Bibliothek ist ein großes Labyrinth, Zeichen des Labyrinthes der Welt. Trittst du ein, weißt du nicht, wie du wieder herauskommst. Man soll die Säulen des Herkules nicht antasten . . .«
    »Also wißt Ihr nicht, wie man in die Bibliothek hineingelangt, wenn die Pforten des Aedificiums geschlossen sind?«
    »Oh, doch«, kicherte der Alte.

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