Der Name der Rose
wundersamer Ereignisse wollte ich meinen Meister gerade um nähere Erklärungen bitten, als ein lauter Krach uns heftig zusammenfahren ließ. Er war aus der Richtung des Ostturms gekommen, wo es zur Bibliothek hinaufging.
»Unser Mann ist noch da, fang ihn!« rief William, und beide rannten wir los, er etwas schneller und ich etwas langsamer, weil ich die Lampe trug. Auf halber Strecke vernahm ich ein wildes Gepolter, wie wenn jemand stolpert und der Länge nach hinfällt, rannte noch schneller und fand meinen Meister am Boden vor der Treppe zum Oberstock, zu seinen Füßen ein schweres Buch mit Metallbeschlägen. Im gleichen Moment hörten wir ein neues Geräusch, diesmal aus der Richtung, aus der wir gerade gekommen waren. »Ich Dummkopf!« schrie William. »Rasch zurück zum Tisch des Venantius!«
Im Laufen begriff ich, daß offenbar jemand, der hinter uns im Dunkeln verborgen gewesen sein mußte, das Buch durch den Saal geworfen hatte, um uns von Venantius' Tisch wegzulocken.
Auch diesmal war William schneller, doch während ich hinter ihm herlief, bemerkte ich zwischen den Säulen eine dunkle Gestalt, die zur Wendeltreppe im Westturm entfloh. Gepackt von feurigem Kampfesmut, drückte ich William die Lampe in die Hand und stürzte mich blindlings auf die Treppe, in welcher der Flüchtling gerade entschwand. Jetzt oder nie, dachte ich grimmig, kam mir vor gleich einem Soldaten Christi im Kampf mit allen Legionen der Hölle und brannte darauf, den Unbekannten zu fangen und meinem Meister zu übergeben. Hals über Kopf purzelte ich die Wendeltreppe hinunter, über den Saum meiner Kutte gestolpert – dies war der einzige Augenblick in meinem Leben (ich schwöre es!), da ich bereute, Mönch geworden zu sein –, tröstete mich indessen sofort bei dem Gedanken, daß mein Gegner an der gleichen Behinderung leiden dürfte; außerdem würde er kaum die Hände frei haben, wenn er das griechische Buch entwendet hatte. Ich landete in der Küche hinter dem Backofen, sah im Licht der sternklaren Nacht, das durch die Fenster der langen Halle einfiel, wie der Schatten des Flüchtlings gerade am anderen Ende im Refektorium verschwand und die Tür hinter sich zuschlug, hastete durch den Raum, brauchte ein paar Sekunden, bis ich die Tür aufbekommen hatte, und stürzte ins Refektorium. Es war leer.
Die Pforte zum Hof war fest verriegelt. Ich drehte mich um. Schweigen und reglose Schatten. Schritte näherten sich in der Küche. Ich drückte mich an die Wand. Auf der Schwelle erschien eine hohe Gestalt mit einer Lampe. Ich schrie . . . Es war William.
»Keiner mehr da? Dachte ich mir. Ist der Flüchtende nicht durch die Tür hinaus? Hat er nicht den Weg durchs Ossarium genommen?«
»Nein, er ist ganz bestimmt hier verschwunden. Ich weiß nur nicht wo!«
»Wie ich vermutet habe: Es gibt noch andere Geheimgänge, und es hat gar keinen Zweck, danach zu suchen. Vielleicht taucht unser Mann in diesem Augenblick gerade irgendwo weit entfernt aus dem Untergrund auf. Und mit ihm mein Lesegerät . . .«
»Eure Augengläser?«
»Genau. Unser Freund hat mir zwar nicht das Pergament zu entreißen vermocht, aber dafür hat er sich geistesgegenwärtig meine Linsen vom Tisch geschnappt.«
»Und warum?«
»Weil er kein Dummkopf ist. Er hat mich von diesem Pergament mit den seltsamen Zeichen reden hören, hat begriffen, daß es wichtig ist, hat sich gedacht, daß ich ohne die Gläser nicht in der Lage sein werde, es zu entziffern, und weiß mit Sicherheit, daß ich es niemandem zeigen werde. Und in der Tat: es ist jetzt so, als ob ich das Pergament gar nicht hätte.«
»Aber woher wußte er um den Wert Eurer Augengläser?«
»Nun, das war nicht schwer zu erraten. Wir hatten gestern nicht nur mit dem Glasermeister darüber gesprochen, ich hatte sie auch heute morgen im Skriptorium auf, um mir Venantius' Bücher anzusehen. Es gab also viele, die sich denken konnten, wie kostbar diese Linsen für mich sind. Und in der Tat, ein normales Manuskript könnte ich notfalls auch ohne sie lesen, aber dieses hier nicht.« William entrollte das mysteriöse Pergament von neuem. »Die griechische Schrift im unteren Teil ist zu klein, und der obere Teil ist zu ungewiß
. . .«
Er zeigte mir die geheimnisvollen Zeichen, die wie durch Zauber in der Wärme der Flamme erschienen waren. »Venantius wollte sich ganz offenbar ein wichtiges Geheimnis notieren und hat dazu eine jener Tinten genommen, die beim Schreiben keine Spur hinterlassen und erst
Weitere Kostenlose Bücher