Der Name der Rose
wir auf dem richtigen Weg. Es kann sich natürlich auch um eine Reihe schierer Zufalle handeln. Man brauchte eine Bestätigung . . .«
»Wo soll man die finden?«
»Im Text. Man muß einen Text erfinden und dann prüfen, ob er die Hypothesen bestätigt. Freilich kann zwischen einer solchen Prüfung und der nächsten manchmal ein ganzer Tag vergehen. Mehr allerdings auch nicht, denn merk dir: Es gibt keine Geheimschrift, die sich nicht mit ein wenig Geduld entziffern ließe! Aber 104
Der Name der Rose – Zweiter Tag
laß uns jetzt nicht soviel Zeit verlieren, wir wollen schließlich noch in die Bibliothek. Zumal ich ohne meine Augengläser niemals imstande sein werde, den zweiten Teil dieser Botschaft zu lesen. Und du kannst mir leider nicht helfen, weil diese Schrift für dich . . .«
» Graecum est, non legitur «, vollendete ich beschämt den Satz.
»Eben, und daran siehst du wieder einmal, wie recht Roger Bacon hatte. Sei fleißig und lerne! Aber was stehen wir hier noch herum, packen wir das Pergament zusammen und gehen hinauf! Heute nacht können uns keine zehn höllischen Heerscharen mehr davon abhalten, in die Bibliothek einzudringen!«
Ich bekreuzigte mich. »Aber sagt mir noch eins: Wer könnte das vorhin gewesen sein? Benno vielleicht?«
»Benno glühte vor Neugier auf Venantius' Bücher, aber ich kann mir nicht vorstellen, daß er uns solche üblen Streiche spielen würde. Im Grunde hat er uns doch eine Art Bündnis oder Pakt angeboten. Außerdem scheint er mir nicht den Mut zu haben, sich nachts ins Aedificium zu wagen.«
»Also Berengar? Oder Malachias?«
»Berengar würde ich so was schon eher zutrauen. Schließlich ist er mitverantwortlich für die Bibliothek und macht sich heftige Vorwürfe, weil er eines ihrer Geheimnisse verraten hat. Möglicherweise nahm er an, daß Venantius jenes verschwundene Buch entwendet hatte, und wollte es heimlich wieder an seinen Ort zurückbringen. Dabei haben wir ihn gestört, und nun versteckt er das Buch irgendwo, und mit Gottes Hilfe wird es uns vielleicht gelingen, ihn zu packen, wenn er es zum zweitenmal in die Bibliothek zurückzubringen versucht.«
»Aber aus denselben Gründen könnte es auch Malachias gewesen sein.«
»Das glaube ich eigentlich nicht. Malachias hatte Zeit genug, den Tisch des Venantius zu untersuchen, als er allein im Skriptorium zurückgeblieben war, um das Aedificium für die Nacht zu verschließen. Ich wußte das, aber ich konnte ihn nicht daran hindern. Jetzt wissen wir, daß er es nicht getan hat. Und wenn wir es genau bedenken, haben wir auch gar keinen Grund anzunehmen, daß Malachias etwas von Venantius' Einbruch in die Bibliothek weiß. Nur Berengar und Benno wissen davon, außer dir und mir. Jorge könnte es durch Adelmus' Beichte erfahren haben, aber Jorge ist gewiß nicht der Mann, der sich vorhin mit solchem Ungestüm in die steile Wendeltreppe gestürzt hat . . .«
»Also entweder Berengar oder Benno . . .«
»Und warum nicht Pacificus von Tivoli oder ein anderer Mönch? Oder der Glasermeister Nicolas, der von meinen Augengläsern weiß? Oder jener zwielichtige Bursche Salvatore, der nachts angeblich wer weiß was für finstere Dinge treibt? Hüten wir uns, den Kreis der Verdächtigen allzu eng zu ziehen, bloß weil Bennos Enthüllungen nur in eine Richtung deuten! Benno wollte uns vielleicht in die Irre führen.«
»Aber Euch ist er doch ehrlich erschienen.«
»Gewiß. Aber merke dir: Die erste Pflicht eines guten Inquisitors ist stets, diejenigen zu verdächtigen, die einem am ehrlichsten erscheinen.«
»Scheußliche Arbeit, die eines Inquisitors«, sagte ich.
»Deswegen habe ich sie ja auch niedergelegt. Doch wie du siehst, komme ich nicht davon los«, erwiderte William lächelnd. »Aber Schluß jetzt mit diesem Gerede! Auf in die Bibliothek!«
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Der Name der Rose – Zweiter Tag
ZWEITER TAG
NACHT
Worin man endlich ins Labyrinth eindringt, sonderbare Visionen hat und sich,
wie es in Labyrinthen vorkommt, verirrt.
Wir stiegen erneut zum Skriptorium hinauf, diesmal über die breite Treppe im Ostturm, die uns auch weiter hinauf zum verbotenen Oberstock führte. Während ich die Lampe hoch vor uns hertrug, dachte ich an die Worte des greisen Alinardus über das Labyrinth und machte mich auf Entsetzliches gefaßt.
Überrascht stellte ich fest, als wir an den geheimnisumwitterten Ort gelangten, daß wir uns in einem nicht sehr großen fensterlosen Raum mit sieben Wänden befanden, in dem – wie übrigens
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