Der Name der Rose
Ecke. Er hatte sich offenbar mit dem Küchenmeister wieder versöhnt und saß nun vor einer Fleischpastete, die er mit großer Inbrunst verzehrte, ja geradezu verschlang, als hätte er in seinem ganzen Leben noch niemals etwas gegessen. Nicht das kleinste Häppchen ließ er fallen, und bei jedem Bissen strahlte er glücklich, als danke er Gott für dieses außerordentliche Ereignis.
Er nickte mir freundlich zu, kam mit seinem Teller an meinen Tisch und erklärte mir, er esse hier für die vielen Jahre, in denen er früher gehungert habe. Ich fragte ihn, wann das gewesen sei, und er erzählte mir von einer elenden Kindheit in einem Dorf zwischen Sümpfen, wo es immerzu regnete und die Felder verfaulten und die Luft von tödlichen Giften erfüllt war. Es gab dort, soweit ich verstand, monatelang Überschwemmungen, so daß die Felder gar keine Furchen mehr hatten und man mit einem Scheffel Saatgut gerade noch einen Sester erntete, und meist zerrann auch noch dieser Sester zu nichts. Selbst die adligen Herren waren bleich im Gesicht wie die Armen, obwohl, wie Salvatore bemerkte, die Armen viel schneller starben, vielleicht (wie er lächelnd hinzufügte) weil sie zahlreicher waren … Ein Sester kostete fünfzehn Groschen, ein Scheffel sechzig, die Prediger sprachen vom nahen Ende der Zeit, doch Salvatores Eltern und Großeltern konnten sich daran erinnern, daß es auch früher schon oft so gewesen war, woraus sie schlössen, daß die Zeiten schon immer dem Ende entgegengingen … Groß also war der Hunger, und als die Dörfler alles erreichbare Aas der Vögel und alle unreinen Tiere verzehrt hatten, gingen Gerüchte um, daß jemand begonnen habe, die Toten auszugraben. Mit lebhaften Gesten erzählte mir Salvatore, als wäre er ein Komödiant auf der Bühne, wie jene »homini malissimi« am Tage nach einem Begräbnis auf den Friedhof zu schleichen pflegten und mit bloßen Händen das frische Grab aufwühlten. »Gnam!« sagte er und schlug die Zähne in seine Fleischpastete, doch in seinen glitzernden Augen sah ich den Blick des Verzweifelten, der den menschlichen Leichnam fraß. Und nicht genug mit dieser Schändung geheiligter Erde, versteckten sich manche, die noch schlimmer als die anderen waren, wie Straßenräuber im Walde und überfielen die Reisenden. »Krrk!« machte Salvatore, das Messer an seiner Kehle, und »Gnam!« … Und die Allerschlimmsten lockten kleine Kinder mit einem Ei oder einem Apfel und zerfleischten sie dann, nicht ohne sie, wie Salvatore mit großem Ernst präzisierte, vorher zu kochen. Von einem Manne erzählte er mir, der eines Tages ins Dorf kam und gekochtes Fleisch verkaufte für wenig Geld, und niemand konnte so großes Glück fassen, bis dann der Pfarrer sagte, es handle sich um Menschenfleisch, woraufhin die wütende Menge den Mann in Stücke riß. Aber noch in derselben Nacht schlich einer der Dörfler zum Grab des Getöteten, grub ihn aus und fraß vom Fleisch des Menschenfressers, so daß er, als man ihn faßte, gleichfalls zum Tode verurteilt wurde.
Doch nicht nur diese Geschichten erzählte mir Salvatore. In abgehackten Worten und Sätzen, die mich zwangen, meine geringen Kenntnisse des Provengalischen und der italienischen Dialekte zu versammeln, erzählte er mir die lange Geschichte seiner Flucht aus dem Dorf und seiner Irrfahrten durch die Welt. Und in seiner Erzählung erkannte ich vieles wieder, was ich früher schon oder auf meiner Reise erfahren hatte, und vieles andere, was ich später erfuhr, erkenne ich heute darin, so daß ich nicht sicher bin, ob ich ihm nicht zuweilen die Abenteuer und Untaten anderer zuschreibe – Dinge also, die vor ihm und nach ihm geschehen sind und die sich heute in meinem müden Geist zu einem einzigen Bilde vereinen dank jener Einbildungskraft, die durch Zusammenfiigung der im Gedächtnis bewahrten Bilder von Gold und Bergen die Vorstellung eines goldenen Berges zu erzeugen vermag.
Oft hatte ich William während unserer gemeinsamen Reise von einfachen Leuten oder simplices reden gehört, ein Begriff, mit dem manche seiner Mitbrüder nicht nur das Volk zu bezeichnen pflegten, sondern auch die Ungebildeten oder Laien, und der mir stets recht allgemein erschienen war, denn in den italienischen Städten hatte ich Handels- und Handwerksleute getroffen, die keine Kleriker waren, aber auch keine Ungebildeten, mochte sich ihre Bildung auch in der Volkssprache ausdrücken; desgleichen waren auch manche Tyrannen, die damals auf der Halbinsel herrschten,
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