Der Name der Rose
produzieren. Und dabei merkten sie gar nicht (wie ich damals undeutlich ahnte und heute, reich an Jahren und Erfahrungen, weiß), daß sie gerade durch dieses ihr Streben den Zusammenbruch ihrer Einmaligkeit noch beschleunigten. Denn wäre das neue Wissen, das sie hervorbringen wollten, ungehindert über die Mauern dieser Abtei in die Welt hinausgedrungen, so hätte sich dieser heilige Ort in nichts mehr von einer Domschule oder städtischen Universität unterschieden. Blieb es indessen verborgen, so behielt es sein Ansehen und seine Kraft und wurde nicht durch Dispute verdorben, durch den quodlibetalen Dünkel, der alle Geheimnisse und alle Größe der kühlen Prüfung des sie et non unterziehen will. Dies eben, sagte ich mir, sind die Gründe für all das Schweigen und Zwielicht, das hier die Bibliothek umgibt: Sie ist ein Hort des Wissens, doch sie kann dieses Wissen nur unversehrt erhalten, wenn sie verhindert, daß es jedem Beliebigen zugänglich wird, sei er auch ein Mönch. Denn das Wissen ist eben nicht wie das Geld, das noch die schändlichsten Tauschhändel physisch unversehrt übersteht. Das Wissen gleicht eher einem kostbaren Kleid, das durch Gebrauch und stolzes Vorzeigen abgenutzt wird. Und gilt nicht dasselbe auch für den Träger des Wissens, das Buch? Seine Seiten knittern, seine Tinten und Goldfarben werden matt, wenn zu viele Hände sie berühren. Wenige Schritte vor mir blätterte Bruder Pacificus von Tivoli in einem alten Folianten, dessen Seiten der Feuchtigkeit wegen leicht aneinanderklebten. Um besser umblättern zu können, benetzte er sich mit der Zunge jedesmal Daumen und Zeigefinger, und bei jeder Berührung mit seinem Speichel verloren die Seiten etwas von ihrer Konsistenz; sie aufzuschlagen hieß also, sie zu biegen, sie der zerstörerischen Einwirkung von Luft und Staub auszusetzen, die das feine Geäder, mit dem sich das Pergament im Laufe der Zeit überzogen hatte, aufplatzen lassen und neue Schimmelbildung hervorrufen würde an jenen Stellen, wo der Speichel die Ecken des Blattes biegsam, aber eben auch mürbe machte. Genau wie allzu große Verzärtelung den Krieger verweichlicht und kampfesuntüchtig macht, so macht allzu große Besitzerliebe und Wißbegier das Buch für die Krankheit empfänglich, an der es am Ende unweigerlich sterben wird.
Was also hätte man tun sollen? Aufhören zu lesen und nur noch pfleglich bewahren? War meine Sorge berechtigt? Und was würde mein Meister wohl dazu sagen?
Nicht weit von mir sah ich einen Rubrikator, Magnus von lona, der gerade sein Vellum mit dem Bimsstein abgerieben hatte und nun dabei war, es mit Kreide mürbe zu machen, um es anschließend mit dem Eisen zu glätten. Neben ihm saß ein anderer, Rhaban von Toledo, er hatte sein Pergament auf dem Tisch befestigt und die Ränder auf beiden Seiten mit winzigen Löchern markiert, zwischen denen er nun mit einem Metallstift feine waagerechte Linien zog. Bald würden die beiden Blätter sich füllen mit Farben und Formen, der Pergamentbogen würde gleich einem Reliquienschrein funkeln von Gemmen inmitten dessen, was schließlich die fromme Textur der Schrift sein sollte. Kein Zweifel, sagte ich mir, diese beiden Mitbrüder erlebten bereits paradiesische Stunden auf Erden: Sie schufen neue Bücher, ebenso prachtvolle wie die alten, die unvermeidlich vom Zahn der Zeit zernagt werden würden … Also konnte die Bibliothek von keiner irdischen Macht bedroht sein, also war sie lebendig … Doch wenn sie lebendig war, warum wollte sie sich dann nicht öffnen und dem Risiko der Erkenntnis aussetzen? War es das, was Benno von Uppsala wollte und was vielleicht auch Venantius von Salvemec angestrebt hatte?
Verwirrt hielt ich inne, meine Gedanken bestürzten mich. Sie waren wohl auch nicht passend für einen Novizen, der lernen sollte, sein Leben gewissenhaft und in Demut ausschließlich an der Regel zu orientieren – was ich seither auch getan habe, ohne mir weitere Fragen zu stellen, während rings um mich her die Welt immer tiefer in einem Chaos aus Blut und Wahnsinn versank.
Die Stunde des Morgenmahls war gekommen, und so begab ich mich in die Küche, wo ich inzwischen gut mit den Köchen befreundet war, die mir denn auch prompt einen Teller von ihrem Besten vorsetzten.
SEXTA
Worin Adson die Lebensgeschichte Salvatores erfährt, die sich nicht in wenigen Worten zusammenfassen läßt, aber ihm viel zu denken und Anlaß zu großer Unruhe gibt.
Während ich aß, erblickte ich Salvatore in einer
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