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Der Name der Rose

Der Name der Rose

Titel: Der Name der Rose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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zwar Ignoranten in Fragen der Theologie und der Medizin und der Logik und der lateinischen Sprache, aber gewiß keine Simpel von schlichtem Gemüt. Daher glaube ich, daß auch mein Meister, wenn er so allgemein von den simplices sprach, einen recht simplen Begriff gebrauchte. Salvatore indessen war ohne Zweifel ein Mann aus dem einfachen Volke. Er stammte aus einer Gegend, die seit Jahrhunderten unter Entbehrungen und Feudalherrenwillkür gelitten hatte. Er war ein schlichtes Gemüt, aber kein Dummkopf. Er sehnte sich nach einer anderen Welt, die ihm zur Zeit seiner Flucht aus dem Dorf, wenn ich ihn recht verstand, als eine Art Schlaraffenland vorschwebte, ein Paradies für Hungernde, worin gebratene Hühner durch die Luft fliegen und auf den Bäumen, die Honig statt Harz aus der Rinde schwitzen, Käselaiber und geräucherte Hartwürste wachsen.
    Von solcher Hoffnung getrieben und nicht bereit, die Welt hinieden demütig als ein Jammertal hinzunehmen, in welchem (wie man mich gelehrt hatte) auch das Unrecht gottgewollt ist, eine Fügung, um das Gleichgewicht der Dinge zu wahren, mag uns deren Sinn auch häufig entgehen (die Pläne des Herrn sind unerforschlich), zog Salvatore durch vielerlei Länder, von seinem heimatlichen Monferrat nach Ligurien und weiter in die Provence und die Länder des Königs von Frankreich.
    Er vagabundierte herum, bettelnd, stehlend, Krankheiten vortäuschend, gelegentlich Dienste für weltliche Herren verrichtend, dann weiterziehend von Stadt zu Stadt, durch die Wälder und über die großen Straßen. Aus seiner Erzählung entnahm ich, daß er sich offenbar mit jenen Landstreicherbanden zusammengetan hatte, die ich im Laufe dieses Jahrhunderts immer häufiger durch Europa ziehen sah: Vaganten, Scharlatane und falsche Mönche, Schwindler, Betrüger, Bettler und Strolche, Aussätzige und Verkrüppelte, kriegsversehrte Landsknechte, Komödianten, Bänkelsänger und Bauchredner, Falschspieler, Zauberkünstler und Negromanten, fahrende Studenten, entsprungene Konventszöglinge, expatriierte Kleriker, schweifende Juden, den Ungläubigen entkommen mit verwirrtem Geist, Schwachsinnige, Verrückte, Narren, Verbannte, vogelfreie Gesellen, Sträflinge mit abgeschnittenen Ohren, Zigeuner und Sodomiten; dazwischen wandernde Handwerksburschen, Weber und Wollschläger, Kesselflicker und Kleinschmiede, Stuhlmacher, Korbflechter, Riemenschneider, Scherenschleifer; das Ganze durchsetzt mit Gaunern und Spitzbuben, Schuften und Schurken, Halunken und Taugenichtsen aller Arten und Sparten: Dieben, Schiebern, Fälschern, Hehlern, Blendern, Lügnern, Zechprellern, Gauklern, Wundertätern und simonistischen Priestern, Menschen, die von der Leichtgläubigkeit anderer lebten als Ablaßhändler, Imitatoren päpstlicher Bullen und Siegel, falsche Gelähmte, die sich vor die Tore der Kirchen postierten, Reliquienverkäufer, Wahrsager und Chiromanten, Quacksalber, Kurpfuscher, Handaufleger, falsche Bettler und schamlose Sittenverderber aller Art, Zuhälter, Huren und Kupplerinnen, Verführer von Mönchen und jungen Mädchen mit List oder mit Gewalt, Simulanten, die allerlei Krankheiten vortäuschten, Wassersucht, Fallsucht, Hämorrhoiden, Gicht und Zipperlein, Schwären und offene Wunden oder auch melancholische Geistesumnachtung. Manche legten sich Pflaster und Binden auf, um unheilbare Geschwüre zu heucheln, andere nahmen eine schwarzrote Flüssigkeit in den Mund, um Blutstürze zu simulieren, oder sie täuschten gebrochene Gliedmaßen vor, indem sie an Stöcken gingen ohne Notwendigkeit, oder sie imitierten Kröpfe und eitrige Beulen mit Hilfe von safrangetränkten Tüchern um Kopf und Hals, wieder andere trugen Ketten an ihren Händen, schlichen sich stinkend in die Kirchen ein und warfen sich auf den Boden, geifernd, Schaum vor dem Mund, die Augen verdreht, Blut aus den Nasenlöchern verströmend, das in Wahrheit aus Maulbeersaft und Zinnober gefertigt war … All das, um eine milde Gabe zu ergattern von den erschrockenen Leuten, die sich beim Anblick dieser Jammergestalten des Barmherzigkeitsgebotes der heiligen Väter entsinnen sollten: Teile dein Brot mit dem Hungernden, gib dem Obdachlosen ein Dach, lasset uns in diesen Ärmsten der Armen Christum aufnehmen, Christum pflegen und Christum kleiden, denn wie das Wasser die Feuersbrunst löscht, so löschen die Almosen unsere Sünden!
    Auch nach den Ereignissen, die ich in diesem Buche erzähle, sah ich häufig und sehe noch heute nicht selten viele von diesen

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