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Der Name der Rose

Der Name der Rose

Titel: Der Name der Rose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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und besorg dir ein Pergament oder eine Tafel und etwas zum Schreiben … Gut, ich sehe, du hast es bei dir, bravo! Wir werden jetzt nämlich einen Spaziergang um das Aedificium machen, solange es noch hell genug ist.«
    Es war noch hell genug, und so machten wir einen langen Abendspaziergang unter den Mauern des Aedificiums. Das heißt, wir musterten der Reihe nach die Türme im Westen, Süden und Osten sowie die Mauern dazwischen. Der Nordturm, der sich über dem Steilhang erhob, konnte aus Gründen der Symmetrie nicht anders sein als das, was wir sahen.
    Und was wir sahen, war (wie William feststellte, während ich es auf meiner Tafel notieren mußte), daß im Oberstock des Aedificiums jede Mauer zwei Fenster hatte und jeder Turm deren fünf.
    »Nun überleg mal«, sagte mein Meister. »Jeder Raum, den wir in der Bibliothek gesehen haben, hatte ein Fenster …«
    »Außer den siebeneckigen«, warf ich ein.
    »Versteht sich, das waren die Räume im Innern der Türme.«
    »Und außer einigen wenigen, die nicht siebeneckig waren und trotzdem keine Fenster hatten.«
    »Vergiß sie. Wir müssen zuerst die Regel finden, dann können wir die Ausnahmen zu erklären versuchen. Wir haben also in jedem Turm fünf Außenräume und an jeder Mauer zwei, jeweils mit einem Fenster. Doch erinnere dich, wenn man in der Bibliothek von einem Außenraum mit Fenster ins Innere des Aedificiums geht, gelangt man wieder in einen Raum mit Fenster. Es muß sich also um Fenster zu jenem Innenhof handeln, den man von der Küche und vom Skriptorium aus sehen kann. Und in welcher Form ist dieser Innenhof angelegt?«
    »Als Achteck.«
    »Sehr gut, und an jeder Seite des Achtecks befinden sich im Skriptorium zwei Fenster. Dementsprechend muß es also in der Bibliothek an jeder Seite des Achtecks zwei innere Räume geben. Richtig?«
    »Ja, aber was ist mit den fensterlosen Räumen?«
    »Es sind insgesamt acht. Der siebeneckige Innenraum, der sich in jedem Turm befindet, hat jeweils fünf Wände mit Durchgängen, die zu den fünf Außenräumen des Turms führen. Was liegt hinter den beiden restlichen Wänden? Es sind weder Außenräume, denn sonst hätten sie Fenster, noch können es Räume zum Innenhof sein, aus demselben Grund und weil sie sonst extrem langgezogen wären. Versuch doch einmal, den Grundriß der Bibliothek zu zeichnen. Du wirst sehen, daß es bei jedem Turm zwei Räume geben muß, die einerseits an den siebeneckigen Innenraum angrenzen und andererseits an zwei Räume mit Fenstern zum Achteck …«
    Ich versuchte es, entwarf den Grundriß nach den Angaben meines Meisters und stieß einen Freudenschrei aus. »Jetzt wissen wir alles! Laßt mich einmal zählen … Ja, die Bibliothek hat sechsundfünfzig Räume, vier siebeneckige und zweiundfünfzig mehr oder minder quadratische, von denen acht fensterlos sind, während achtundzwanzig nach außen gehen und sechzehn nach innen!«
    »Und die vier Ecktürme haben jeder fünf Räume mit vier Wänden und einen mit sieben … Die ganze Anlage folgt einer himmlischen Harmonie, der sich vielerlei tiefe und wundersame Bedeutungen zuordnen lassen …«
    »Großartig, wie Ihr das herausgefunden habt«, sagte ich bewundernd. »Aber warum ist es dann so schwer, sich darin zu orientieren?«
    »Weil die Anordnung der Durchgänge keinerlei mathematischem Gesetz entspricht. Manche Räume gestatten den Durchgang zu mehreren anderen, manche nur zu einem, und vielleicht gibt es sogar welche, die gänzlich verschlossen sind. Wenn du das bedenkst, das und den Mangel an Licht und die Unmöglichkeit, sich am Sonnenstand zu orientieren (und dazu die Spiegel und die Visionen), dann begreifst du leicht, warum das Labyrinth imstande ist, jeden Eindringling zu verwirren, der es mit Schuldgefühlen betritt. Selbst wir waren gestern nacht ja ziemlich verzweifelt, als wir den Ausgang nicht fanden. Ein Höchstmaß an Konfusion durch ein Höchstmaß an Ordnung: wahrlich ein raffiniertes Kalkül. Die Erbauer der Bibliothek waren große Meister!«
    »Wie werden wir uns dann zurechtfinden?«
    »Das dürfte jetzt nicht mehr schwierig sein. Mit Hilfe des Plans, den du gezeichnet hast und der mehr oder minder genau dem Grundriß der Bibliothek entsprechen muß, werden wir uns, sobald wir im ersten siebeneckigen Raum sind, unverzüglich in einen der beiden blinden Räume begeben. Wenn wir uns dann immer rechts halten, müßten wir nach drei oder vier Räumen erneut zu einem Turm gelangen, der logischerweise nur der Nordturm

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