Der Name der Rose
als ich neugierig zwischen den Tischen herumschlich, sah ich auf einem ein Buch, das einer der Mönche in jenen Tagen wohl gerade kopierte. Der Titel erregte sofort mein Interesse: Historia fratris Dulcini Heresiarche . Ich glaube, es lag auf dem Tisch des Bruders Petrus von Sant'Albano, der, wie ich gehört hatte, an einer monumentalen Geschichte des Ketzertums arbeitete (die er freilich nach allem, was in der Abtei geschehen sollte, niemals beendet hat – aber greifen wir den Ereignissen nicht vor). Es war also nicht weiter verwunderlich, daß dieses Buch hier lag, auch lagen andere Bücher ähnlichen Inhalts daneben, Schriften über die Patarener, die Flagellanten und so weiter. Ich aber nahm's als ein übernatürliches Zeichen, sei's vom Himmel oder auch aus der Hölle, und beugte mich voller Neugier darüber. Es war nicht sehr lang und besagte im ersten Teil mehr oder minder, mit zahlreichen Einzelheiten, die ich vergessen habe, was Ubertin mir erzählt hatte. Auch war die Rede von vielen Greueltaten, welche die Dolcinianer während des Krieges und der Belagerung ihres Berges begangen – und von der letzten Schlacht, die überaus grausam gewesen sein muß. Dann aber fand ich auch manches, was Ubertin mir nicht erzählt hatte, und es war lebhaft geschildert von einem, der es offenbar selber miterlebt hatte und sich noch gut daran erinnern konnte.
So erfuhr ich, daß im März Anno Domini 1307, am Ostersamstag, Dolcino, Margaretha und Longinus von Bergamo, endlich gefangen, in die Stadt Biella verbracht und dort dem Bischof übergeben wurden, der sie einkerkern ließ und die Entscheidung des Papstes abwartete. Dieser, als er die Nachricht erhielt, übermittelte sie sogleich an König Philipp von Frankreich mit den Worten: »Wir haben höchst willkommene Nachricht erhalten, die Uns Anlaß zu Freude und Jubel gibt, denn jener pestilenzialische Dämon, Sohn des Belial und greuliche Häresiarch Dolcino ist nach langen Gefahren, Mühen, Metzeleien und zahlreichen Interventiones mitsamt seinen Anhängern endlich verwahrt in Unseren Kerkern, dank der Beharrlichkeit Unseres verehrungswürdigen Bruders Raniero, Bischof von Vercelli, der ihn gefangennahm am Tage des heiligen Abendmahls Unseres Herrn, und wurde der Haufe, der mit ihm war, da verseucht von der Kontagion, noch selbigen Tages getötet.« Der Papst war gnadenlos und befahl dem Bischof, die Gefangenen unverzüglich hinrichten zu lassen. So wurden die Ketzer im Juli desselben Jahres, am ersten Tage des Monats, dem weltlichen Arm übergeben. Unter dem Sturmläuten sämtlicher Glocken der Stadt wurden sie auf einen Karren gebunden, und, umstellt von Henkersknechten sowie gefolgt von Milizsoldaten, durch die Straßen gezogen, und an jeder Kreuzung riß man ihnen mit glühenden Zangen Fleischstücke aus dem Körper. Margaretha wurde als erste verbrannt, vor den Augen Dolcinos, der keinen Gesichtsmuskel dabei rührte, so wie er auch keinen Klagelaut von sich gab, als ihm die Zangen ins Fleisch fuhren. Dann setzte der Karren seinen Umzug fort, und die Henkersknechte tauchten ihre Eisen in Bottiche voller kochendem Öl.
Dolcino litt weitere Qualen und blieb weiterhin stumm, nur als man ihm die Nase amputierte, zog er ein wenig die Schultern hoch, und als man ihm das männliche Glied abriß, war ein langer Seufzer zu hören wie ein leises Jaulen. Das letzte, was man von ihm vernahm, war ein Aufruf zur Unbußfertigkeit und die Ankündigung, er werde am dritten Tage auferstehen. Dann wurde er verbrannt, und seine Asche wurde in alle Winde zerstreut.
Ich schloß das Buch mit zitternden Händen. Dolcino hatte zweifellos schlimme Verbrechen begangen, aber sein Tod war entsetzlich gewesen. Und auf dem Scheiterhaufen hatte er sich verhalten wie … ja, wie eigentlich? Wie ein standhafter Märtyrer oder wie ein verstockter Sünder? Während ich schwankend die Stufen zur Bibliothek erklomm, begriff ich plötzlich, warum ich so erregt und verwirrt war. Denn auf einmal stand mir eine Szene vor Augen, die ich wenige Monde vorher gesehen, kurz nach meiner Ankunft in der Toskana. Eine schreckliche Szene, und sie stand mir so lebhaft vor Augen, daß ich mich fragte, wie ich sie bis zu diesem Augenblick hatte vergessen können, als hätte meine kranke Seele eine Erinnerung tilgen wollen, die auf ihr lastete wie ein Alptraum. Vielleicht aber hatte ich sie in Wirklichkeit gar nicht vergessen, denn jedesmal, wenn in den letzten Tagen jemand in meiner Gegenwart von Fratizellen gesprochen
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