Der Name der Rose
hatte, waren Bilder jenes Geschehens vor meinem inneren Auge aufgetaucht, die ich dann jedesmal schnellstens wieder in die hintersten Winkel meines Geistes verbannte, als wäre es eine Sünde gewesen, Zeuge jener Greuel geworden zu sein.
Zum erstenmal nämlich hatte ich von Fratizellen gehört, als ich eines Tages in Florenz einen von ihnen brennen sah. Es war kurz vor meiner Begegnung mit Bruder William gewesen. Seine Ankunft in Pisa hatte sich ein wenig verzögert, und so hatte mein Vater mir erlaubt, die Stadt Florenz zu besuchen, um ihre berühmten Kirchen zu sehen. Ich war erst ein wenig in der Toskana herumgereist, um meine Kenntnisse der italienischen Volkssprache zu verbessern, und dann nach Florenz gelangt, wo ich die letzte Woche zu verbringen gedachte, denn ich hatte schon viel von der Stadt am Arno gehört und brannte darauf, sie kennenzulernen.
Kaum eingetroffen, hörte ich von einem spektakulären Fall, der die ganze Stadt in große Erregung versetzte. Ein häretischer Bettelmönch, der wegen angeblicher Verbrechen gegen die Religion dem Bischof und anderen kirchlichen Würdenträgern vorgeführt worden war, wurde in jenen Tagen einem strengen und ausgedehnten Verhör unterzogen. Mitgerissen vom Strom der Neugierigen begab ich mich zum Ort des Geschehens, wobei ich die Leute sagen hörte, daß dieser fraticello – er hieß Michele – in Wahrheit ein frommer Mann sei, der Buße und Armut gepredigt habe mit den Worten des heiligen Franz; vor die Richter sei er gekommen durch die Bosheit gewisser Frauenzimmer, die ihn angelockt hätten unter dem Vorwand, sie wollten ihm beichten, und die dann hinterher behauptet hätten, er habe ketzerische Äußerungen getan. Ja, und er sei von den Männern des Bischofs direkt im Haus dieser Frauenzimmer gefaßt worden – ein Umstand, der mich den Kopf schütteln ließ, denn zweifellos hätte ein Mann der Kirche sich niemals bereitfinden dürfen, die Sakramente an einem so unpassenden Ort zu verabreichen. Aber das genau war anscheinend die Schwäche der Fratizellen, daß sie die Konventionen nicht gebührend achteten, und vielleicht war ja auch ein Gran Wahrheit an jenem Gerede, das ihnen nicht nur ketzerische Gedanken und Worte, sondern auch einen zweifelhaften Lebenswandel nachsagte (wie es ja auch von den Katharern immer hieß, sie seien Bulgaren und Sodomiten).
Mit diesen Gedanken beschäftigt, gelangte ich zur Salvatorkirche, wo der Prozeß stattfand, doch ich konnte wegen der großen Volksmenge, die sich davor versammelt hatte, nicht hinein. Ein paar besonders Neugierige waren indes zu den vergitterten Fenstern emporgeklettert, so daß sie sehen und hören konnten, was drinnen geschah, und es den anderen draußen berichteten. Die Inquisitoren waren gerade dabei, dem Angeklagten das Geständnis vorzulesen, das er wenige Tage zuvor gemacht und worin er gesagt hatte, Christus und seine Jünger hätten »kein einzig Ding besessen zum Eigentum, weder als einzelne noch gemeinsam«, doch Michele protestierte gegen den Zusatz des Protokollanten, er habe daraus »viele falsche Konsequenzien« gezogen, und rief mit lauter Stimme (so daß ich es draußen hören konnte): »Das werdet ihr zu verantworten haben am Tage des Jüngsten Gerichts!« Aber die Inquisitoren verlasen das Geständnis so, wie sie es abgefaßt hatten, und als sie fertig waren, fragten sie ihn, ob er sich künftig in Demut an die Meinung der Kirche und des ganzen Volkes der Stadt halten wolle. Und ich hörte Michele laut ausrufen, er werde sich nur an das halten, was er glaube, nämlich an den »gekreuzigten armen Christus«, und der Papst sei »ein Ketzer, weil er das Gegenteil sagt«. Es folgte eine große Debatte, in welcher die Inquisitoren, darunter viele Franziskaner, ihm klarzumachen versuchten, daß die Heilige Schrift etwas anderes lehre, während er sie beschuldigte, ihre eigene Ordensregel zu verraten, worauf sie erregt versetzten, er wolle doch wohl nicht behaupten, die Schriften besser auslegen zu können als sie, die darin Meister seien. Und Fra Michele, der wirklich sehr hartnäckig war, widersprach ihnen, so daß sie ihm zuzusetzen begannen mit Provokationen wie: »Und jetzt wollen wir, daß du Christum einen Besitzenden nennst und Papst Johannes katholisch und heilig.« Michele aber blieb unnachgiebig: »Nein, ketzerisch!« Da sagten sie, sie hätten nie zuvor einen so Verstockten gesehen. Doch in der Menge draußen hörte ich manche sagen, er sei wie Christus vor den Pharisäern, und
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