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Der Name der Rose

Der Name der Rose

Titel: Der Name der Rose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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Papstes und der Kardinale zerschlagen?«
    »Eben dies ist das Schlimme am Ketzertum, daß es, wie jeder Wahn, die besten Gedanken verdreht und zu Konsequenzen führt, die den Gesetzen Gottes und der Menschen Hohn sprechen! Die Minoriten haben niemals vom Kaiser verlangt, er solle die anderen Geistlichen töten.«
    Hier irrte Ubertin, wie man heute weiß, denn als Ludwig der Bayer wenige Monate später seine Herrschaft in Rom errichtete, taten Marsilius und andere Minoriten mit den papsttreuen Geistlichen eben das, was Dolcino gefordert hatte. Womit ich beileibe nicht etwa sagen will, daß Dolcino im Recht gewesen wäre, allenfalls, daß Marsilius im Unrecht war … Gleichwohl begann ich mich nun zu fragen, besonders nach meinem Gespräch mit William an jenem Morgen, wie eigentlich die einfachen Leute im Gefolge Dolcinos korrekt unterscheiden sollten zwischen den Verheißungen der Spiritualen und ihrer Verwirklichung durch Dolcino. War es denn wirklich ein so großes Verbrechen, wenn er in handfeste Praxis umsetzte, was fromme Männer, die als rechtgläubig galten, in reinster Mystik gepredigt hatten? Oder lag vielleicht hierin genau der Unterschied, bestand vielleicht wahre Frömmigkeit in der reinen Hoffnung auf Gott, im geduldigen Warten, daß ER uns geben wird, was seine Propheten verheißen haben, ohne daß wir es mit irdischen Mitteln zu erreichen trachten? Heute weiß ich, daß es so ist und warum Dolcino irrte: Man darf die Ordnung der Dinge nicht ändern, auch wenn man glühend auf ihre Veränderung hoffen muß. An jenem Abend indessen fühlte ich mich zwischen widersprüchlichen Gedanken hin- und hergerissen.
    »Am Ende«, fuhr Ubertin fort, »erkennst du den Stempel der Häresie stets in der Hoffart. Im Jahre 1303 sandte Dolcino ein zweites Rundschreiben aus, in welchem er sich zum Oberhaupt der ›Apostolischen Kongregation‹ erklärte und zu seinen Stellvertretern die perfide Margaretha (eine Frau!) ernannte sowie die Pseudo-Apostel Longinus von Bergamo, Fridericus von Novara, Albertus Carentinus und Valdericus von Brescia. Und er erging sich des langen und breiten über eine Abfolge von vier Päpsten, zwei guten, nämlich der erste und der letzte, und zwei bösen, der zweite und dritte. Der erste sei Coelestin gewesen, der zweite Bonifaz VIII., von dem die Propheten gesagt hätten: ›Die Hoffart deines Herzens hat dich ruchlos gemacht, oh du, der du in den Felsspalten wohnest.‹ Der dritte Papst wurde nicht namentlich genannt, doch von ihm habe Jeremias gesagt: »Seht, welch ein Löwe!‹ Und den Löwen sah Dolcino infamerweise in Friedrich von Sizilien. Der vierte Papst schließlich sei zwar noch unbekannt, aber er werde der Heilige Papst sein, der Papa Angelicus, von dem auch der Abt Joachim gesprochen hatte. Er werde von Gott auserwählt sein, und dann werde die Gnade des Heiligen Geistes über Dolcino und die Seinen kommen (sie waren inzwischen viertausend), und sie würden die Kirche erneuern bis ans Ende der Zeiten. Doch in den drei Jahren bis zur Ankunft des vierten Papstes müsse alles Böse vertilgt werden. Was Dolcino alsdann zu tun versuchte, indem er das ganze Land mit Krieg überzog. Und als der vierte Papst kam (und hieran siehst du, welches grausame Spiel der Teufel mit seinen Sukkubi treibt), war es ausgerechnet jener Clemens, der zum Kreuzzug gegen Dolcino aufrief. Und mit vollem Recht, denn die Ansichten, die Dolcino in seinen Rundschreiben vertrat, waren nun wirklich nicht mehr mit dem rechten Glauben vereinbar. Er behauptete nämlich, daß die römische Kirche eine Hure sei, daß man den Priestern keinen Gehorsam schulde, daß alle geistliche Macht auf die Apostlersekte übergegangen sei, daß allein die Apostler die neue Kirche bildeten, daß die Apostler die Ehe auflösen könnten, daß niemand das Heil erlangen werde, wenn er nicht zu ihrer Sekte gehöre, daß kein Papst die Absolution erteilen könne, daß man den Zehnten nicht zu bezahlen brauche, daß es besser sei, ohne Gelübde zu leben als mit Gelübde, daß eine geweihte Kirche nichts bedeute für das Gebet, nicht mehr als ein Schweinestall, und daß man den Herrn in den Wäldern ebensogut wie in den Kirchen anbeten könne.«
    »Hat er all diese Dinge wirklich gesagt?«
    »Ja, das ist gesichert, er hat sie geschrieben. Doch er tat leider noch mehr. Denn kaum daß er sich mit seinen Leuten auf dem Monte della Parete Calva verschanzt hatte, begann er, die Dörfer im Tal zu überfallen und Raubzüge zu unternehmen, um sich

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