Der Name der Rose
wie ich's mir deuten sollte. Und ich bebte am ganzen Leibe, sowohl aus Furcht wie aufgrund des kalten Luftzuges, der durch die Schlitze in den Wänden hereindrang.
Der Löwe, den ich da wie gebannt betrachtete, hatte das Maul voller bleckender Zähne, und sein Haupt war geschuppt wie das einer Schlange, und der mächtige Leib, der sich auf vier Tatzen mit scharfen und wild gespreizten Krallen erhob, ähnelte in seinem Vlies jenen Teppichen, die ich später bei Kaufleuten aus dem Morgenland sah, gepanzert mit roten und smaragdgrünen Schuppen, unter denen sich, gelb wie die Pest, schreckliche und gewaltige Knochenglieder abzeichneten. Gelb war auch der gewundene Schwanz, der sich hoch über dem Rücken bis zum Kopf heraufschwang und nach einer letzten Windung in schwarzen und weißen Haarbüscheln endete.
Tief beeindruckt von diesem Löwen (bei dessen Betrachtung ich mehr als einmal erschrocken herumgefahren war, als fürchtete ich, hinter meinem Rücken eine Bestie wie diese leibhaftig auftauchen zu sehen), entschloß ich mich endlich weiterzublättern, und alsbald fiel mein Blick, am Anfang des Evangeliums nach Matthäus, auf das Bild eines Mannes. Ich kann nicht recht sagen, warum, doch es erschreckte mich fast noch heftiger als der Löwe: Das Antlitz war das eines Mannes, doch dieser Mann war gepanzert mit einer starren Rüstung, die ihn bis zu den Füßen hinab umhüllte, und diese Rüstung war über und über mit roten und gelben Edelsteinen besetzt. Und das Antlitz, das da so rätselhaft aus einem Kranz von Rubinen und Topasen heraussah, erschien mir auf einmal (ja, so blasphemisch machte mich mein Entsetzen) wie das des geheimnisvollen Mörders, dessen ungreifbare Spur wir in diesen Tagen verfolgten. Und als ich näher hinsah, begriff ich auf einmal, warum ich das Tier und den Panzer so eng mit dem Labyrinth verband, denn beide, wie auch die anderen Figuren in diesem Buche, erhoben sich auf einem dichten Figurengeflecht von mannigfach ineinander verwobenen Labyrinthen, deren smaragdene Linien, chrysoprasene Fäden und beryllene Bänder mich allesamt an nichts anderes zu mahnen schienen als an das Ineinander von Räumen und Korridoren, in welchem ich mich befand. Ja, mein Auge verlor sich, den funkelnden Wegen auf der Buchseite folgend, wie meine Füße sich im fieberhaften Durcheilen der Räume der Bibliothek verloren hatten, und daß ich derart mein eigenes Herumirren dargestellt sah auf diesem Pergament, erfüllte mich von neuem mit großer Unruhe, und ich begriff, daß all diese Bücher mich foppten und mir hohnlachend meine eigene Geschichte erzählten. » De te fabula narratur 63 «, murmelte ich beklommen und fragte mich, ob diese Seiten etwa auch schon den weiteren Fortgang meiner Geschichte enthielten.
Ich schlug ein anderes Buch auf, und dieses schien mir spanischer Herkunft zu sein. Die Farben waren grell, das Rot dünkte mich wie aus Blut und Feuer. Es war eine Handschrift der Offenbarung Johannis, und wieder fiel mein Blick sogleich auf die Seite mit der mulier amicta sole . Doch es war nicht dasselbe Buch wie in der Nacht zuvor, die Zeichnung war anders, und diesmal hatte der Künstler sich eingehender mit den Zügen und der Gestalt des Weibes befaßt. Ich verglich ihr Antlitz, ihre Brüste und ihre geschwungenen Flanken mit denen der Jungfrau auf der Mariensäule, die Ubertin mir gezeigt. Der Stil war anders, doch auch diese mulier kam mir wunderschön vor. Errötend über die Unschicklichkeit meiner Gedanken blätterte ich weiter, und wieder erblickte ich eine Frauengestalt, aber diesmal war es die Große Hure von Babel. Und mehr noch als ihr Körper beschäftigte mich der Gedanke, daß auch sie ein Weib wie die andere war. Denn obwohl doch die eine der Inbegriff aller Laster und die andere das Sinnbild aller Tugenden war, hatten beide die gleiche Weibesgestalt, hier wie dort, und auf einmal vermochte ich nicht mehr zu fassen, worin der Unterschied lag. Und wiederum stieg eine nie gekannte Erregung in mir auf, das Bild der Jungfrau auf der Mariensäule schob sich in meinem verwirrten Geiste vor das Bild der liebreizenden Margaretha, und heiß durchfuhr es mich: »Ich bin verdammt!« oder: »Ich bin ein Narr!« Nur fort von hier, ich durfte keinen Augenblick länger in dieser Bibliothek verweilen!
Glücklicherweise befand ich mich nahe der Treppe. Blindlings stolperte ich sie hinunter, ohne der Lampe zu achten. Sekunden später stand ich unter den weiten Gewölben des Skriptoriums, kam aber
Weitere Kostenlose Bücher