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Der Name der Rose

Der Name der Rose

Titel: Der Name der Rose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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Ereignisse und Gedanken so fest ins Gedächtnis eingepflanzt hat, oder die Unzulänglichkeit dieser Reue, die mich heute noch plagt und alle Einzelheiten meiner Schande wachhält in meinem betrübten Geist), sondern die Sache so zu schildern, wie ich sie damals erlebte. Was ich indes mit der Treue des guten Chronisten tun kann, denn wenn ich die Augen schließe, sehe ich alles genauestens vor mir, was ich damals tat und empfand, als hätte ich eine Schrift vor Augen, die damals geschrieben ward. Ich brauche also nur gleichsam diese Schrift zu kopieren, und möge der Erzengel Michael mir dabei Schutz gewähren. Denn zur Erbauung künftiger Leser und zur Geißelung meiner Schuld will ich nun erzählen, wie ein junger Mensch sich in den Stricken des Bösen verfangen kann, auf daß diese Stricke sichtbar und offenkundig werden und jeder, der künftig in sie gerät, sich rechtzeitig zu befreien vermag.
    Es war also eine Frau. Was sage ich: ein Mädchen. Da ich seither (und Gott sei Dank bis heute) kaum viel Umgang mit den Wesen jenes Geschlechts gehabt habe, kann ich nicht genau sagen, wie alt sie war. Ich weiß nur, daß sie jung war, fast noch ein Kind, sie mochte vielleicht sechzehn oder achtzehn Lenze zählen, vielleicht auch zwanzig, und mich rührte die menschliche Wärme, die von ihrer Gestalt ausging. Nein, diese Gestalt war keine Vision, und sie erschien mir, was immer sie sein mochte, valde bona 64 . Vielleicht weil sie zitterte wie ein kleiner Vogel im Winter und weinte und sich vor mir fürchtete.
    So trat ich, gedenkend der Pflicht jedes guten Christen, stets hilfreich seinem Nächsten zur Seite zu stehen, mit großer Behutsamkeit näher und sagte in gutem Latein zu der zitternden Kreatur, sie brauche sich nicht zu furchten, ich sei ihr freundlich gesonnen, jedenfalls sicher nicht feindlich, gewiß nicht so feindlich, wie sie es offenbar wähnte.
    Vielleicht war es die Sanftheit, die aus meinen Blicken strömte, jedenfalls wurde das arme Geschöpf nun etwas ruhiger und kam näher. Ich merkte, daß sie mein Latein nicht verstand, und sprach sie instinktiv in meiner Muttersprache an, also auf deutsch, aber das erschreckte sie wieder sehr, vielleicht wegen der harten Laute, die den Bewohnern dieser Gegend ungewohnt waren, vielleicht auch, weil diese Laute ihr eine andere Erfahrung, möglicherweise mit einem Landsknecht aus meiner Heimat, in Erinnerung riefen. So lächelte ich, in der Annahme, daß die Sprache der Gesten und Blicke allgemeinverständlicher sei als die der Worte, und sie beruhigte sich rasch wieder. Ja, sie lächelte ebenfalls und sagte ein paar leise Worte zu mir.
    Ich verstand zwar nur wenig von ihrem Dialekt, und in jedem Falle klang er recht anders als der, den ich ein wenig in Pisa gelernt hatte, aber dem Tonfall entnahm ich, daß es zärtliche Worte waren, und mir schien, als sagte sie etwas wie: »Du bist jung, du bist schön …« Selten geschieht es einem Novizen, der seine ganze Kindheit im Kloster verbracht hat, daß jemand ihm etwas über seine Schönheit sagt; im Gegenteil, meist wird man daran erinnert, daß Anmut und Jugend vergänglich sind und keiner besonderen Hochschätzung würdig. Doch mannigfach sind die Wege des Bösen, und ich gestehe, daß diese unvermutete Anspielung auf meine Wohlgestalt, wie hinfällig diese auch immer sein mochte, mir gar süß in den Ohren klang und ein unbändiges Gefühl in mir aufsteigen ließ. Zumal das Mädchen, um auch dies zu sagen, dabei seine Hand ausstreckte und mir mit den Fingerspitzen leicht über die Wange strich, die damals noch gänzlich bartlos war. Eine nie gekannte Lust überkam mich, doch ich verspürte dabei keinen Schatten von Sünde in meinem Herzen. So viel vermag zuweilen der Dämon, wenn er uns in Versuchung fuhren will und sich anschickt, die Spuren der Gnade aus unserer Seele zu tilgen.
    Was geschah mir? Was fühlte, was sah ich? Ich weiß nur, daß mir für meine Gefühle im ersten Augenblick jeder Ausdruck fehlte, denn es war meiner Zunge und meinem Geist nicht beigebracht worden, solche Empfindungen zu benennen. Allmählich stiegen dann andere Worte aus meinem Innern auf, Worte, die ich zu anderen Zeiten vernommen und die gewiß zu anderen Zwecken gesprochen waren, die mir jedoch wie durch ein Wunder im Einklang zu stehen schienen mit der Lust jenes Augenblicks, als wären sie konsubstantiell zu ihrem Ausdruck ersonnen. Worte, die sich in den tiefsten Zonen meiner Erinnerung festgesetzt hatten, stiegen herauf und

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