Der Name der Rose
nicht zur Ruhe und stürzte mich weiter die Treppe hinunter zum Refektorium.
Hier endlich hielt ich keuchend inne. Das Mondlicht jener sternklaren Nacht drang durch die hohen Fenster herein, so daß ich meine Lampe fast nicht mehr brauchte (die jedoch unverzichtbar gewesen war in den Zellen und Stollen der Bibliothek). Dennoch ließ ich sie brennen, gleichsam als Trost für mein aufgewühltes Gemüt. Doch da mein Herz weiterhin heftig klopfte, beschloß ich, einen Schluck Wasser zu trinken, um mich ein wenig zu beruhigen. Die Küche war gleich nebenan, also durchquerte ich das Refektorium und öffnete langsam eine der Türen, die zur anderen Hälfte des Erdgeschosses führten.
Im selben Moment erstarrte ich, und mein Schrecken wuchs, anstatt abzunehmen. Denn sofort bemerkte ich, daß in der Küche, nahe dem Backofen, jemand war. Zumindest sah ich ein Licht dort glimmen, und erschrocken löschte ich unverzüglich das meine. Offenbar jagte mein Erschrecken dem anderen ebenfalls Schrecken ein, denn gleich darauf erlosch auch das seine. Aber das Mondlicht war hell genug, um vor meinen Augen den Schatten einer (oder auch mehr als einer) Gestalt auf den Boden zu werfen.
Erstarrt vor Angst wagte ich weder zurück- noch voranzugehen. Da drang ein Aufschluchzen an mein Ohr, und mich dünkte, die Stimme einer Frau zu vernehmen. Gleich darauf löste sich aus der formlosen Gruppe, die sich undeutlich vor dem Backofen abzeichnete, eine gedrungene Gestalt und entfloh durch die Pforte zum Hof, die anscheinend halboffen gestanden hatte und nun mit leisem Klicken hinter dem Flüchtling ins Schloß fiel.
Reglos verharrte ich auf der Schwelle zwischen Küche und Refektorium, und ebenso reglos verharrte ein undefinierbares Etwas neben dem Ofen. Ein undefinierbares, aber – wie soll ich sagen – winselndes Etwas. Ja, denn ich hörte ein unterdrücktes Schluchzen, ein rhythmisches Wimmern vor Angst.
Nichts macht einen Ängstlichen mutiger als die Angst eines anderen, doch war es nicht unbedingt Mut, was mich antrieb, dem Schatten näherzutreten. Eher war es, so würde ich sagen, eine Art Trunkenheit ähnlich jener, die ich eben erst angesichts der Visionen verspürt hatte. Irgendwie schien mir, daß ein schwerer Duft in der Küche lag, der mir ähnlich vorkam wie der Geruch des glimmenden Dochtes am Vorabend in der Bibliothek; vielleicht war es auch eine andere Substanz, doch auf meine erregten Sinne tat sie die gleiche Wirkung. Ich roch ein Gemisch aus Weinstein, Traganth und Alaun, wie es die Köche benutzen, um den gegorenen Rebensaft zu würzen. Oder es lag daran, daß man, wie ich später erfuhr, in jenen Tagen das Bier zubereitete (das sich in dieser Gegend Italiens einer gewissen Schätzung erfreute), wozu man, ähnlich wie in meiner Heimat, Sumpfmyrte, Erika und wilden Rosmarin nahm. Lauter Aromen jedenfalls, die rascher noch als meine Nase meinen Geist trunken machten.
Und während einerseits mein Instinctus rationalis in mir rief: » Vade retro! « und mich drängte, vor jenem schluchzenden Wesen zu fliehen, da es sicher ein Sukkubus war, den der Böse vor mir erstehen ließ, trieb mich andererseits etwas in meiner Vis appetitiva unwiderstehlich voran, als wollte ich teilhaben an einem Wunder.
So ging ich langsam auf jenen Schatten zu, bis ich im fahlen Mondlicht die Gestalt eines Weibes erkannte, die zitternd ein dunkles Bündel an ihre Brust drückte und zugleich leise weinend vor mir zurückwich.
Gott, die Heilige Jungfrau und alle Heiligen des Paradieses mögen mir beistehen, wenn ich jetzt berichte, was mir geschah. Die Scham und die Würde meines Standes (als nunmehr greiser Mönch in diesem schönen Kloster zu Melk, einem Ort des Friedens und der beschaulichen Einkehr) raten mir frömmste Zurückhaltung an. Eigentlich dürfte ich einfach nur sagen, daß etwas Schlimmes geschah, worüber wir besser nicht weiter reden. Das würde jedenfalls mir und meinem Leser manche Verwirrung ersparen.
Doch ich habe mir vorgenommen, die ganze Wahrheit über jene fernen Geschehnisse zu berichten, und die Wahrheit ist bekanntlich unteilbar, sie leuchtet kraft ihrer eigenen Klarheit und darf nicht verdunkelt werden durch unsere Interessen und unsere Schamhaftigkeit. Mein Problem liegt eher darin, die Sache nicht so zu schildern, wie ich sie heute sehe und im Gedächtnis habe (obwohl ich sie bis zum heutigen Tage aufs lebhafteste im Gedächtnis habe – wobei ich offen gestanden nicht weiß, ob es die spätere Reue war, die mir
Weitere Kostenlose Bücher