Der Name der Rose
Stammelnd und schluchzend flehte der Ärmste um Gnade, und es war klar, daß wir nichts weiter aus ihm herausbringen würden. So beschloß William, sich nun auch den Cellerar vorzuknöpfen, und entließ Salvatore, der eilends mit wehender Kutte in Richtung der Kirche entschwand.
Wir fanden Remigius am anderen Ende der Abtei bei den Kornspeichern, wo er gerade mit einigen Bauern aus dem Tal verhandelte. Er blickte uns unsicher an und tat sehr beschäftigt, doch William beharrte darauf, daß er ihn unbedingt sprechen müsse. Bisher hatten wir mit diesem Manne nicht viel zu tun gehabt, er war uns höflich begegnet und wir ihm desgleichen. Nun aber sprach ihn William an, als wäre er noch ein Mitbruder seines Ordens. Der Cellerar schien verwirrt über diese Vertraulichkeit und reagierte zunächst mit großer Vorsicht.
»Ich nehme an, daß dein Amt dich zwingt«, begann William, »auch nachts, wenn die anderen schlafen, in der Abtei nach dem Rechten zu sehen?«
»Das hängt davon ab«, antwortete Remigius vage. »Manchmal sind kleinere Angelegenheiten zu erledigen, für die ich ein paar Stunden meines Schlafes opfern muß.«
»Hast du bei diesen Gelegenheiten in letzter Zeit nichts bemerkt, das uns einen Hinweis geben könnte, wer sich hier nachts und ohne deine Rechtfertigung zwischen Küche und Bibliothek zu schaffen macht?«
»Hätte ich etwas bemerkt, so hätte ich es dem Abt gesagt.«
»Natürlich«, nickte William und wechselte unvermittelt das Thema: »Das Dorf unten im Tal ist nicht sehr reich, oder?«
»Wie man's nimmt. Eine Anzahl der Bauern sind Präbendare, abhängige Pfründner, die ein Stück Land der Abtei bewirtschaften und in fetten Jahren teilhaben an unserem Reichtum. Heuer zum Beispiel erhielten sie zu Johannis zwölf Scheffel Malz, ein Pferd, sieben Ochsen, einen Stier, vier Fohlen, fünf Kälber, zwanzig Schafe, fünfzig Hühner und siebzehn Bienenstöcke. Dazu vierzig geräucherte Schweinehälften, siebenundzwanzig Tiegel Schmalz, ein halbes Faß Honig, drei Kessel Seife, ein Fischnetz …»
»Gut, gut, ich habe verstanden«, unterbrach ihn William. »Aber du wirst mir zugeben, daß dies alles noch nicht besagt, wie die Dörfler leben, wie viele von ihnen Präbendare sind und wieviel Land ein unabhängiger Bauer zu bestellen hat.«
»Oh, was das betrifft«, erklärte Remigius, »eine normale Familie hat etwa fünfzig Tafeln.«
»Wieviel ist eine Tafel?«
»Vier Trabucchi im Quadrat natürlich.«
»Trabucchi im Quadrat? Wieviel ist das?«
»Sechsunddreißig Fuß im Quadrat pro Trabucco. Anders gesagt, achthundert lineare Trabucchi sind eine piemontesische Meile. Du kannst rechnen, daß eine Familie – und zwar in den Tälern nach Norden – Oliven für mindestens einen halben Sack Öl anbauen kann.«
»Einen halben Sack?«
»Ja, ein Sack macht fünf Eminen, eine Emine acht Kannen.«
»Verstehe«, sagte William entmutigt. »Jedes Land hat seine eigenen Maße. Den Wein zum Beispiel meßt ihr nach Humpen, nicht wahr?«
»Oder nach Kruken. Sechs Kruken sind eine Kufe, acht Kufen ein Faß. Oder andersherum, eine Kruke hat sechs Pint zu je zwei Kannen.«
»Ich glaube, jetzt sehe ich klar«, sagte mein Meister resigniert.
»Willst du noch mehr wissen?« fragte der Cellerar in einem Ton, der mir herausfordernd klang.
»Oh ja! Ich habe dich nach dem Leben im Dorf gefragt, weil ich nämlich heute früh im Skriptorium zufällig über die Predigten zu den Weibern des Dominikaners Humbert von Romans meditierte, insbesondere über jenes Kapitel Ad mulieres pauperes in villulis , worin er sagt, daß die Frauen in den Dörfern aufgrund ihrer Armut mehr als andere der fleischlichen Sünde zugetan sind. An einer bemerkenswerten Stelle heißt es: › Peccant enim mortaliter, cum peccant cum quocumque laico, mortalius vero quando cum Clerico in sacris ordinibus constituto, maxime vero quando cum Religioso mundo mortuo .‹ 73 Du weißt besser als ich, daß auch an so heiligen Orten wie diesem hier der Mittagsdämon mit seinen Versuchungen stets auf der Lauer liegt, und so habe ich mich gefragt, ob du bei deinen Kontakten mit den Dörflern nicht womöglich erfahren hast, daß einige Mönche – Gott behüte! – eventuell einige Mädchen zu unkeuschem Treiben verführt haben könnten.«
Obwohl mein Meister all diese Dinge in eher zerstreutem Ton und wie beiläufig sagte, wird der geneigte Leser sicher begriffen haben, in welch tiefe Verwirrung sie den armen Cellerar stürzten. Ich kann nicht sagen,
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