Der Name der Rose
Denn nicht alle Wahrheiten sind für alle Ohren bestimmt, nicht alle Lügen sind sofort als solche erkennbar für eine fromme Seele, und schließlich sollen die Mönche im Skriptorium eine genau definierte Arbeit tun, wozu sie bestimmte Bücher lesen müssen – die anderen gehen sie nichts an, und sie sollen nicht jedem Anflug von Neugier nachgeben, der sie plötzlich packen mag, sei es aus Schwäche des Geistes oder aus Hochmut oder aufgrund einer teuflischen Einflüsterung.«
»Demnach gibt es in Eurer Bibliothek auch Bücher, die Lügen enthalten …«
»Scheusale existieren, weil sie Teil des göttlichen Plans sind, und selbst in den schrecklichsten Fratzen offenbart sich die Größe des Schöpfers. So existieren, gleichfalls als Teil des göttlichen Plans, auch die Bücher der Magier, die Kabbalen der Juden, die Fabeln der heidnischen Dichter und die Lügen der Ungläubigen. Stets war es die feste und heilige Überzeugung der Gründer und Hüter dieser Abtei, daß auch in den Lügenbüchern ein Abglanz der göttlichen Weisheit vor den Augen des kundigen Lesers aufscheinen kann. Und darum enthält die Bibliothek auch diese Bücher. Doch aus dem gleichen Grunde, versteht Ihr, darf sie nicht von jedermann betreten werden. Außerdem«, fügte der Abt hinzu, als wollte er sich für die Dürftigkeit dieses letzten Arguments entschuldigen, »sind Bücher gebrechliche Wesen, sie leiden unter dem Zahn der Zeit, sie fürchten die Nagetiere, die Unbilden der Witterung, die plumpen Hände ungeübter Benutzer. Hätte in den vergangenen Jahrhunderten jedermann Zutritt zur Bibliothek gehabt und unsere Handschriften nach Belieben berühren dürfen, so wäre der größte Teil von ihnen heute nicht mehr vorhanden. Der Bibliothekar schützt sie also nicht nur vor den Menschen, sondern auch vor der Natur, und er widmet sein ganzes Leben diesem fortwährenden Krieg gegen die Kräfte des Vergessens, des Feindes der Wahrheit.«
»Demnach betritt also außer den beiden Personen niemand das Obergeschoß des Aedificiums?«
Der Abt lächelte fein: »Niemand darf es. Niemand kann es. Niemand hätte, selbst wenn er es wollte, Erfolg. Die Bibliothek verteidigt sich selbst. Unergründlich wie die Wahrheit, die sie beherbergt, trügerisch wie die Lügen, die sie hütet, ist sie ein geistiges Labyrinth und zugleich ein irdisches. Kämt Ihr hinein, Ihr kämt nicht wieder heraus. Dies mag Euch genügen, ich muß Euch bitten, Euch an die Regeln dieser Abtei zu halten.«
»Gleichwohl haltet Ihr es für möglich, daß Adelmus aus einem der Fenster des Obergeschosses gestürzt sein könnte. Wie soll ich seinen Tod untersuchen, wenn ich den Ort nicht sehen darf, an dem die Geschichte seines Todes möglicherweise begonnen hat?«
»Verehrtester Bruder William«, sagte der Abt konziliant, »einem Manne, der meinen Rappen Brunellus beschreiben konnte, ohne ihn je gesehen zu haben, und der den Tod des Adelmus zu schildern vermochte, obwohl er so gut wie nichts darüber wußte – einem solchen Manne wird es kaum schwerfallen, in seine Gedanken Orte miteinzubeziehen, zu denen er keinen Zutritt hat.«
»Wie Ihr wollt«, fügte sich William mit einer leichten Verbeugung. »Ihr seid weise, auch wenn Ihr streng seid.«
»Wenn ich je weise sein sollte«, versetzte der Abt elegant, »so wäre ich es, weil ich streng zu sein vermag.«
»Ein letztes noch«, wollte William wissen. »Wie steht es mit Ubertin?«
»Er ist hier. Er erwartet Euch. Ihr findet ihn in der Kirche.«
»Wann?«
»Jederzeit«, lächelte der Abt. »Ihr müßt wissen, er ist, obgleich sehr gelehrt, kein Mann, der sich gern in Bibliotheken aufhält. Eine säkulare Verlockung hält ihn davon ab … Er verbringt seine Tage zumeist in der Kirche mit Meditation und Gebet.«
»Ist er alt geworden?« fragte William zögernd.
»Seit wann habt Ihr ihn nicht gesehen?«
»Seit vielen Jahren.«
»Er ist müde geworden. Er hat sich weit von den Dingen der Welt entfernt. Achtundsechzig Jahre ist er alt, aber ich glaube, sein Geist ist jung geblieben.«
»Ich werde ihn unverzüglich aufsuchen. Ich danke Euch.«
Der Abt lud ihn ein, mit den Mönchen das Mittagsmahl einzunehmen, aber William sagte, er habe erst vor kurzem gegessen, und zwar sehr gut, und er wolle lieber gleich Ubertin aufsuchen. So erhob sich der Abt und wandte sich mit einem Gruß zur Tür.
Als er die Zelle gerade verlassen wollte, erhob sich im Hof ein markerschütternder Schrei wie von einem tödlich getroffenen Menschen,
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