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Der Name der Rose

Der Name der Rose

Titel: Der Name der Rose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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heiligen Priesteramtes, begriff selbst ich unerfahrenes Kind, daß der Abt offenbar etwas wußte, was er unter dem Siegel des Beichtgeheimnisses erfahren hatte – etwas besonders Schlimmes und Sündhaftes, das mit dem tragischen Ende des Mönches Adelmus zu tun haben könnte. Und das war vielleicht auch der Grund, warum er nun Bruder William bat, ein Geheimnis aufzudecken, das er ahnte, aber niemandem offenbaren durfte, wobei er hoffte, mein scharfsinniger Meister werde kraft seines Verstandes erhellen, was er, der Abt, kraft des hehren Gebotes der Barmherzigkeit im dunkeln lassen mußte.
    »Also gut«, sagte William schließlich. »Darf ich den Mönchen Fragen stellen?«
    »Ihr dürft.«
    »Kann ich mich frei bewegen in der Abtei?«
    »Ich gebe Euch die Erlaubnis.«
    »Werdet Ihr mir die Aufgabe coram monachis übertragen?«
    »Noch heute abend.«
    »Gut, aber ich werde sofort beginnen, noch ehe die Mönche wissen, mit welcher Aufgabe Ihr mich betraut habt. Ich wollte ohnehin schon seit langem – und das ist nicht der letzte Grund meines Besuches hier – Eure Bibliothek besichtigen, von der man bewundernd in allen Klöstern der Christenheit spricht.« Der Abt fuhr auf, tat fast einen Satz, und seine Züge verhärteten sich. »Ihr könnt Euch frei in der ganzen
    Abtei bewegen, wie ich gesagt habe. Nicht aber im Obergeschoß des Aedificiums, nicht in der Bibliothek!«
    »Warum nicht?«
    »Ich hätte es Euch vorher erklären sollen, aber ich dachte, Ihr wüßtet es schon. Unsere Bibliothek ist nicht
    wie die anderen …«
    »Ich weiß, daß sie mehr Bücher als jede andere Bibliothek der Christenheit hat. Ich weiß, daß verglichen mit Euren Beständen diejenigen der Abteien von Bobbio oder Pomposa, von Cluny oder Fleury eher dem Spielzimmer eines Kindes gleichen, das gerade lesen zu lernen beginnt. Ich weiß, daß die sechstausend Codizes, derer sich Novalesa vor mehr als einem Jahrhundert rühmte, im Vergleich zu den Euren wenig sind, und vielleicht befinden sich viele von jenen nun hier. Ich weiß, daß Eure Abtei das einzige Licht ist, das die Christenheit den sechsunddreißig Bibliotheken von Bagdad, den zehntausend Handschriften des Wesirs Ibn al-Alkami entgegenzusetzen hat, daß die Zahl Eurer Bibeln den zweitausendvierhundert Koranabschriften gleichkommt, derer sich Kairo rühmt, und daß die Realität Eurer Schätze eine glänzende Widerlegung der stolzen Legende jener Ungläubigen darstellt, die Vorjahren behaupteten (vertraut mit dem Fürsten der Lüge, wie sie es sind), die Bibliothek von Tripolis besitze sechs Millionen Bände und sei bewohnt von achtzigtausend Kommentatoren und zweihundert Schreibern.«
    »So ist es, gelobt sei der Herr!«
    »Ich weiß, daß unter Euren Mönchen viele sind, die von weither kommen aus anderen Abteien; manche für kurze Zeit, um ein Manuskript zu kopieren, das anderswo unauffindbar ist, und die Kopie mit nach Hause zu nehmen, nicht ohne Euch zum Dank eine andere kostbare Handschrift gebracht zu haben, die Ihr dann kopieren laßt und Eurem Schatz einverleibt; andere bleiben für lange Jahre, manche gar bis zu ihrem Tod, da sie nur hier die Werke finden, die ihre Forschung erleuchten. So habt Ihr unter Euch Franzosen, Hispanier, Germanen, Dakier und Griechen. Ich weiß auch, daß Kaiser Friedrich Euch vor vielen Jahren ersuchte, ein Buch über die Prophezeiungen des legendären Zauberers Merlin zu kompilieren und ins Arabische zu übersetzen, auf daß er es dem Sultan von Ägypten zum Geschenk machen könne. Ich weiß schließlich auch, daß selbst ein so ruhmreiches Kloster wie Murbach in unseren traurigen Zeiten keinen einzigen Schreiber mehr hat und daß in Sankt Gallen nur noch wenige Mönche leben, die des Schreibens kundig sind, denn heutzutage sind es die Städte, in denen sich Zünfte und Gilden ausbreiten, bestehend aus weltlichen Schreibern, die im Dienst und Auftrag der Universitäten arbeiten, so daß es allein noch Eure Abtei ist, die tagtäglich den Ruhm Eures Ordens erneuert, was sage ich: mehrt und zu immer neuen Höhen treibt!«
    » Monasterium sine libris «, zitierte versonnen der Abt, » est sicut civitas sine opibus, castrum sine numeris, coquina sine suppellectili, mensa sine cibis, hortus sine herbis, pratum sineßoribus, arbor sine foliis 12 … Ja, unser Orden! Als und solange er wuchs am Doppelgebot der Arbeit und des Gebetes, war er Licht für die ganze bekannte Welt, Hort des Wissens, Zuflucht einer antiken Bildung, die unterzugehen drohte in

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