Der Name der Rose
auch bei dieser Gelegenheit die Fratres vigilantes durch die Reihen gingen und mit ihren Lampen in die Gesichter leuchteten, um die Singenden anzuhalten zur Vigilia des Leibes und der Seele.
Einer der Vigilanten war es denn auch, der als erster entdeckte, daß Malachias sonderbar wankte, als sei er plötzlich in die kimmerischen Nebel des Tiefschlafs eingetaucht, den er vermutlich in jener Nacht nicht genossen hatte. Er trat näher und leuchtete ihm ins Gesicht, wodurch er meine Aufmerksamkeit auf die Szene zog. Der Bibliothekar reagierte nicht. Der Lampenträger berührte ihn, und schwer kippte Malachias vornüber. Der Lampenträger konnte ihn gerade noch rechtzeitig auffangen, bevor er zu Boden stürzte.
Die Stimmen erloschen, der Gesang erstarb, es folgte ein kurzes Durcheinander. William war sofort aufgesprungen und zu der Stelle geeilt, wo jetzt Pacificus von Tivoli und der Vigilant den reglosen Malachias auf den Boden legten.
Wir trafen fast gleichzeitig mit dem Abt bei dem Zusammengebrochenen ein und musterten sein Gesicht im Schein der Lampen. Ich habe sein Aussehen schon beschrieben, doch nun, in diesem Licht, sah er aus wie der Tod persönlich: die Nase spitz, die Augen hohl, die Wangen eingefallen, die Ohren weiß und zusammengeschrumpft mit nach außen gekehrten Läppchen, die Gesichtshaut straff und trocken, gelblich und gesprenkelt mit schwarzen Flecken. Er hatte die Augen noch offen, und seinen verdorrten Lippen entströmte ein dünner Hauch. Er schnappte nach Luft, sein Mund ging auf, und ich sah, gebeugt über Williams Schulter, der vor ihm kniete, wie im Gehege der Zähne eine schwarze Zunge sich wand. William faßte ihm mit einer Hand um die Schulter, hob ihn halb hoch und wischte ihm mit der anderen kleine glänzende Schweißperlen von der Stirn. Malachias spürte die Berührung, starrte mit weit aufgerissenen Augen vor sich hin, gewiß ohne etwas zu sehen, ohne jemanden zu erkennen, und hob eine zitternde Hand.
Er packte William an der Brust und zog ihn an sich, bis ihre Gesichter einander fast berührten. Matt und kaum vernehmbar brachte er ein paar Worte hervor: »Er hatte mich gewarnt … es hatte wirklich … die Kraft von tausend Skorpionen …«
»Wer hatte dich gewarnt?« fragte William.
Malachias wollte noch etwas sagen, doch ein heftiges Beben erschütterte ihn. Sein Kopf fiel zurück, alle Farbe wich aus seinem Gesicht. Er war tot.
William legte ihn nieder und stand auf. Er sah den Abt neben sich stehen, der kein Wort sagte, und hinter dem Abt Bernard Gui.
»Herr Bernard«, wandte er sich an diesen, »wer hat den hier getötet, nachdem Ihr doch den Mörder so trefflich gefunden und in Gewahrsam genommen habt?«
»Fragt mich nicht«, erwiderte der Inquisitor. »Ich habe niemals behauptet, alle Übeltäter überführt zu haben, die in dieser Abtei ihr Unwesen treiben. Ich hätte es gern getan, wenn ich gekonnt hätte …« Er sah William bedeutungsvoll an. »Doch die restlichen muß ich nun der Strenge – oder der übertriebenen Nachsicht – des Herrn Abtes überlassen …« Sprach's und entfernte sich, während der Abt erbleichte.
Im selben Moment hörten wir ein dumpfes Stöhnen. Es war Jorge, der in seiner Gebetsbank kniete, gestützt von einem Mönch, der ihm wohl gerade gesagt hatte, was geschehen war.
»Nie wird es enden …«, klagte er mit gebrochener Stimme. »Oh Herr, vergib uns allen!«
William beugte sich noch einmal über den Toten und nahm seinen Puls. Er hob die Handflächen ans Licht. Die ersten drei Finger der rechten Hand waren an den Kuppen schwarz.
LAUDES
Worin ein neuer Cellerar ernannt wird, aber kein neuer Bibliothekar.
War es wirklich schon Laudes? War es früher oder später? Von nun an verlor ich das Zeitgefühl. Mag sein, daß Stunden vergingen oder auch weniger, während der Leichnam des armen Malachias in der Kirche aufgebahrt wurde und die Mönche sich fächerförmig verteilten zur Totenwache. Der Abt gab Anweisungen für die nahe Bestattungsfeier. Ich hörte, wie er Benno von Uppsala und Nicolas von Morimond zu sich rief. Im Laufe eines einzigen Tages, sagte er, habe nun die Abtei sowohl ihren Bibliothekar als auch ihren Cellerar verloren. »Du«, wandte er sich an den Glasermeister, »wirst künftig Remigius' Aufgaben übernehmen. Du kennst die Arbeit der meisten hier. Setze jemanden in der Werkstatt als deinen Nachfolger ein und kümmere dich um das Notwendige in Küche und Refektorium. Du bist von den Gottesdiensten befreit. Geh!«
Weitere Kostenlose Bücher