Der Name der Rose
Frömmigkeit selbst, aus der fanatischen Liebe zu Gott oder zur Wahrheit, so wie der Häretiker aus dem Heiligen und der Besessene aus dem Seher entspringen. Fürchte die Wahrheitspropheten, Adson, und furchte vor allem jene, die bereit sind, für die Wahrheit zu sterben: Gewöhnlich lassen sie viele andere mit sich sterben, oft bereits vor sich, manchmal für sich. Jorge hat ein teuflisches Werk vollbracht, weil er seine Wahrheit so blindwütig liebte, daß er alles wagte, um die Lüge zu vernichten. Jorge fürchtete jenes zweite Buch des Aristoteles, weil es vielleicht wirklich lehrte, das Antlitz jeder Wahrheit zu entstellen, damit wir nicht zu Sklaven unserer Einbildungen werden. Vielleicht gibt es am Ende nur eins zu tun, wenn man die Menschen liebt: sie über die Wahrheit zum Lachen bringen , die Wahrheit zum Lachen bringen, denn die einzige Wahrheit heißt: lernen, sich von der krankhaften Leidenschaft für die Wahrheit zu befreien.«
»Aber Meister«, wagte ich einzuwenden, »Ihr redet jetzt so, weil Ihr in tiefster Seele verletzt seid. Mir scheint, es gibt durchaus eine Wahrheit, nämlich jene, die Ihr gestern abend entdeckt habt, jene, zu der Ihr gelangt seid, indem Ihr die Spuren gedeutet habt, die Ihr in den letzten Tagen fandet. Jorge mag gesiegt haben, aber Ihr habt Jorge besiegt, denn Ihr habt seine Intrige aufgedeckt …«
»Es gab keine Intrige«, sagte William, »und ich habe sie aus Versehen aufgedeckt.«
Die Antwort war ein Widerspruch in sich selbst, und mir war nicht klar, ob William das so gewollt hatte. »Aber es ist doch wahr, daß die Spuren im Schnee auf Brunellus verwiesen«, sagte ich, »es ist wahr, daß Adelmus Selbstmord begangen hatte, es ist wahr, daß Venantius nicht im Bottich ertrunken war, es ist wahr, daß das Labyrinth so angelegt war, wie Ihr es vermutet hattet, es ist wahr, daß man ins Finis Africae eindrang, wenn man das Wort quatuor berührte, es ist wahr, daß die geheimnisvolle griechische Handschrift von Aristoteles stammte … Ich könnte die Liste der wahren Dinge, die Ihr mit Hilfe Eurer Wissenschaft aufgedeckt habt, noch lange fortsetzen …«
»Ich habe nie an der Wahrheit der Zeichen gezweifelt, Adson, sie sind das einzige, was der Mensch hat, um sich in der Welt zurechtzufinden. Was ich nicht verstanden hatte, war die Wechselbeziehung zwischen den Zeichen. Ich bin zu Jorge gelangt, indem ich einem apokalyptischen Muster folgte, das den Verbrechen zu .unterliegen schien, und dabei war es ein Zufall. Ich bin zu Jorge gelangt, indem ich einen Urheber aller Verbrechen suchte, und dabei haben wir nun entdeckt, daß im Grunde jedes Verbrechen einen anderen Urheber hatte, beziehungsweise keinen. Ich bin zu Jorge gelangt, indem ich dem Plan eines perversen, wahnhaften, aber methodisch denkenden Hirns nachging, und dabei gab es gar keinen Plan, beziehungsweise Jorges ursprünglicher Plan hatte sich selbständig gemacht und eine Verkettung von Ursachen eingeleitet, von Haupt-und Neben- und Gegenursachen, die sich auf eigene Rechnung weiterentwickelten, indem sie Wechselbeziehungen eingingen, denen keinerlei Plan unterlag. Wo ist da meine ganze Klugheit? Ich bin wie ein Besessener hinter einem Anschein von Ordnung hergelaufen, während ich doch hätte wissen müssen, daß es in der Welt keine Ordnung gibt.«
»Aber indem Ihr Euch falsche Ordnungen vorgestellt habt, habt Ihr schließlich etwas gefunden …«
»Da hast du etwas sehr Schönes gesagt, Adson, ich danke dir. Die Ordnung, die unser Geist sich vorstellt, ist wie ein Netz oder eine Leiter, die er sich zusammenbastelt, um irgendwo hinaufzugelangen. Aber wenn er dann hinaufgelangt ist, muß er sie wegwerfen, denn es zeigt sich, daß sie zwar nützlich, aber unsinnig war. › Er muoz gelîchesame die leiter abewerfen, sô er an ir ufgestigen ‹ … Sagt man so?«
»So klingt es in meiner Sprache. Wer hat das gesagt?«
»Ein Mystiker aus deiner Heimat, er hat es irgendwo niedergeschrieben, ich weiß nicht mehr, wo … Und daher ist es auch nicht notwendig, daß eines Tages jene griechische Handschrift wiedergefunden wird. Die einzigen Wahrheiten, die etwas taugen, sind Werkzeuge, die man nach Gebrauch wegwirft.«
»Ihr könnt Euch jedenfalls keine Vorwürfe machen, Ihr habt Euer Bestes getan.«
»Und das beste der Menschen ist wenig. Es fällt schwer, den Gedanken zu akzeptieren, daß es in der Welt keine Ordnung geben kann, da sie den freien Willen Gottes und seine Allmacht einschränken würde. So gesehen
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