Der Name der Rose
desto langsamer setzten wir unsere Weiterreise nach Rom fort, und ich begriff, daß William nicht Zeuge von Ereignissen werden wollte, die seine Hoffnungen niederdrückten.
In Pomposa erfuhren wir schließlich, daß Rom sich gegen Ludwig erhoben hatte. Er war nach Pisa zurückgekehrt, um die Papststadt den siegreich wiedereinziehenden Legaten Avignons zu überlassen.
Unterdessen hatte Michael von Cesena eingesehen, daß er bei Johannes nichts mehr erreichen, ja seines Lebens nicht mehr sicher sein konnte, und war geflohen, um sich in Pisa mit Ludwig zu vereinigen. Dieser hatte jedoch inzwischen sogar die Unterstützung seines getreuen Castruccio, des Herrn von Lucca und Pistoia, durch dessen plötzlichen Tod verloren.
Kurzum, wir sahen voraus, daß der Bayer sich bald geschlagen nach München zurückziehen würde, und beschlossen kehrtzumachen, um ihm dorthin vorauszueilen, auch weil Italien für William allmählich unsicher zu werden begann. In der Tat sollte das kaisertreue Bündnis der ghibellinischen Fürsten in den folgenden Monaten rasch zerfallen, und nur ein Jahr später unterwarf sich der Gegenpapst Nikolaus, vor dem Thron zu Avignon niederkniend mit einem Strick um den Hals, dem alten Fuchs von Cahors.
Als wir in München eintrafen, mußte ich mich unter vielen Tränen von meinem guten Meister verabschieden. Sein Schicksal war ungewiß, und meine Eltern wünschten meine Rückkehr nach Melk. Seit jener tragischen Nacht, da William mir angesichts der zerstörten Abtei sein tiefstes Seelenleid offenbart hatte, waren wir in stillschweigender Übereinkunft nie wieder auf die Geschichte zurückgekommen. Auch während unseres traurigen Abschieds erwähnten wir sie mit keinem Wort.
Mein Meister gab mir viele gute Ratschläge für meine künftigen Studien mit auf den Weg und schenkte mir die Linsen, die Meister Nicolas ihm gemacht hatte, da ihm die seinen genügten. Noch sei ich jung, sagte er, aber eines Tages würde ich sie gebrauchen können (und in der Tat habe ich sie, während ich diese Zeilen schreibe, auf der Nase). Dann umarmte er mich mit der Herzlichkeit eines Vaters und sagte mir Lebewohl.
Ich habe ihn niemals wiedergesehen. Nach vielen Jahren erzählte mir jemand, er sei der großen Pest zum Opfer gefallen, die Europa um die Mitte dieses Jahrhunderts verheerte. Stets bete ich, Gott möge seine Seele gnädig zu sich genommen und ihm die vielen Akte der Hoffart vergeben haben, die sein stolzer Geist ihn hatte begehen lassen.
Jahrzehnte später, längst schon in reifem Alter, hatte ich Gelegenheit zu einer Italienreise im Auftrag meines Abtes. Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen und machte auf der Rückreise einen langen Umweg, um wiederzusehen, was einst die Abtei gewesen.
Die beiden Dörfer am Fuße des Berges waren verödet, die Felder ringsum lagen brach. Ich stieg den Hang hinauf bis zum Hochplateau, und meinen tränenerfüllten Augen bot sich ein Bild der Trostlosigkeit.
Von den prachtvollen großen Gebäuden, die einst jenen Ort geschmückt hatten, standen nur kümmerliche Ruinen, ganz wie von den heidnischen Monumenten in der Stadt Rom. Efeu überrankte die Mauerstümpfe, die Säulen, die wenigen noch vorhandenen Architrave. Hohes Unkraut wucherte allenthalben, so daß man nicht einmal mehr sehen konnte, wo vordem die Gärten gelegen hatten. Nur die Lage des Friedhofs war noch erkennbar an einigen Grabsteinen, die halb aus dem Erdboden ragten. Das einzige Zeichen von Leben waren hochfliegende Raubvögel auf der Jagd nach Schlangen und Eidechsen, die gleich Basilisken zwischen den Steinen züngelten oder um die verfallenen Gemäuer huschten. Vom Kirchenportal standen nur noch wenige schimmelzerfressene Reste, aber das Tympanon war zur Hälfte erhalten, und ich entdeckte sogar, weit aufgerissen von den Unbilden der Witterung und umflort von grauen Flechten, das linke Auge des Sitzenden auf dem Thron und ein Stück vom Antlitz des Löwen.
Das Aedificium schien großenteils, abgesehen von der eingestürzten Südmauer, noch zu stehen und dem Nagen der Zeit zu trotzen. Die beiden Türme über dem Steilhang sahen fast unversehrt aus, nur die Fenster waren überall leere Augenhöhlen mit Tränensäcken aus fauligen Schlinggewächsen. Innen jedoch verschmolz das zerstörte Menschenwerk mit dem der Natur, und aus der Küche sah das Auge durch eine weite Öffnung zum Blau des Himmels empor, denn die oberen Stockwerke und das Dach waren niedergestürzt wie gefallene Engel. Und alles, was
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