Der Name der Rose
Kontext, leicht an den Galgen.
Ursprünglich sollten meine Mönche in einem zeitgenössischen Kloster leben (ich dachte an einen Mönchs-Detektiv, der Il Manifestpo 122 las). Aber da Klöster oder Abteien noch immer von allerlei mittelalterlichen Erinnerungen zehren, stöberte ich in meinen Archiven aus mediävistischen Studientagen (1956 ein Buch über die mittelalterliche Ästhetik, 1959 weitere hundert Seiten zum Thema, ein paar Aufsätze hier und da, 1962 erneute Rückkehr zur mittelalterlichen Tradition für meine Arbeiten über Joyce, 1972 dann eine längere Studie über die Apokalypse und über die Miniaturen des Kommentars von Beatus Liébanensis
– ich war also nie ganz aus der Übung gekommen). Mir fiel ein breitgefächertes Material in die Hände: Textauszüge, Fotokopien, Notizen, die sich seit 1952 angesammelt hatten, um anderen gänzlich vagen Zwecken zu dienen – einer Geschichte der Monster, einer Studie über die mittelalterlichen Enzyklopädien, einer Theorie der Aufzählung … Nach einer Weile sagte ich mir, wenn das Mittelalter ohnehin mein tägliches Imaginarium ist, könnte ich ebensogut auch einen Roman schreiben, der unmittelbar in jener Epoche spielt. Denn wie ich einmal in einem Interview sagte, die Gegenwart kenne ich nur aus dem Fernsehen, über das Mittelalter habe ich Kenntnis aus erster Hand. Bei einem Familienausflug, als wir einmal ein Feuer im Freien machten, warf meine Frau mir vor, ich hätte gar keinen Blick für die Funken, die zwischen den Bäumen aufflogen und als Leuchtstreifen durch die Abendluft segelten. Als sie dann das Kapitel über den Brand der Abtei las, rief sie erstaunt: »Also hast du doch die Funken gesehen!« Worauf ich erwiderte: »Nein, aber ich wußte, wie ein mittelalterlicher Mönch sie gesehen hätte.«
Vor zehn Jahren, in einem Brief an den Verleger Franco Maria Ricci, geschrieben als Nachwort zu meinem Kommentar über den Apokalypsenkommentar des Abtes Beatus von Liebana, gestand ich:
»Wie man's auch dreht und wendet, ich gelangte zur Forschung, indem ich symbolische Wälder durchstreifte, darinnen es Greife und Einhörner gab, indem ich die spitzzinnigen und quadratischen Bauformen der Kathedralen mit den exegetischen Spitzfindigkeiten in den Vierkantformeln der Summulae verglich, indem ich zwischen Notre Dame und zisterziensischen Kirchen vagabundierte, freundlich plaudernd mit gebildeten und gespreizten Cluniazensermönchen, beargwöhnt von einem schwerfälligen und rationalistischen Aquinaten, in Versuchung geführt von Honorius Augustoduniensis mit seinen phantastischen Geographien, aus denen man nicht nur erfährt, quare inpueritia coitus non contingat 123 , sondern auch, wie man zur Verlorenen Insel gelangt und wie man einen Basilisken fängt, ausgerüstet nur mit einem Taschenspiegel und einem unerschütterlichen Glauben an das Bestiarium … Diese Vorlieben und Leidenschaften haben mich nie verlassen, auch nicht, als ich später aus geistigen und materiellen Gründen andere Wege beschritt (wer Mediävistik betreiben will, muß oft beträchtliche Mittel aufwenden, um in ferne Bibliotheken reisen und seltene Handschriften mikrofilmen zu können). So ist das Mittelalter zwar nicht mein Beruf, wohl aber mein Hobby geblieben – und meine stete Versuchung, denn ich sehe es überall durchscheinen in den Dingen, mit denen ich mich beschäftige, die nicht mittelalterlich erscheinen und es doch sind … Heimliche Ferien unter den Säulen und Rundbögen von Autun, wo heute der Abt Grivot Manuale über den Teufel schreibt mit schwefelgetränktem Einband, sommerliche Ekstasen vor den Portalen von Conques und Moissac, betört von den vierundzwanzig Greisen der Apokalypse oder von Teufeln, welche die armen verdammten Seelen in kochende Kessel pferchen; zugleich Regenerationen des Geistes durch Lektüre des Aufklärer-Mönches Beda, Tröstungen der Vernunft durch das Studium Ockhams, um die Geheimnisse der Zeichen auch dort zu verstehen, wo Saussure noch dunkel geblieben ist. Und so weiter, mit fortdauernder Nostalgie nach der Peregrinatio Sancti Brendani, mit Überprüfungen unseres Denkens am altirischen Book of Kells , mit Borges, wiedergefunden in den keltischen Kenningar , mit Kontrolluntersuchungen zum Verhältnis von überredeten Massen und Macht anhand der Tagebücher des Abt-Bischofs Suger …«
Die Maske
In Wahrheit beschloß ich nicht nur, vom Mittelalter zu erzählen, sondern im Mittelalter, nämlich durch den Mund eines mittelalterlichen
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