Der Name der Rose
entgegen, legte mir die Hand auf den Kopf und fragte, wer ich sei. Als ich ihm meinen Namen nannte, erhellte sich sein Gesicht.
»Du trägst einen großen und schönen Namen«, sagte er. »Weißt du, wer Adson von Montier-en-Der war?« Ich gestand, daß ich es nicht wußte. Woraufhin Jorge erklärte: »Er war der Autor eines großen und erschütternden Buches, des Libellus de Antichristo , in welchem er Dinge sah, die eines Tages geschehen werden. Doch er fand kaum Gehör …«
»Das Buch wurde vor der Jahrtausendwende geschrieben«, sagte William, »und seine Voraussagen haben sich nicht erfüllt …«
»Nur für jene nicht, die keine Augen haben zu sehen«, sagte der Blinde. »Die Wege des Antichrist sind langwierig und verschlungen. Er kommt, wenn wir ihn am wenigsten erwarten – und nicht, weil die Berechnungen falsch wären, die der Apostel uns nahegelegt, sondern weil wir nicht gelernt haben, sie zu deuten.« Und mit donnernder Stimme rief er, das Antlitz zum Saale gewandt, so daß die Deckengewölbe erbebten: »Er ist schon im Kommen! Vergeudet nicht eure letzten Tage mit Lachen über die albernen kleinen Monster mit scheckigem Fell und gewundenen Schwänzen! Nutzet die letzten sieben Tage!«
VESPER
Worin der Rest der Abtei besichtigt wird und William erste Schlußfolgerungen über den Tod des Adelmus zieht sowie mit dem Bruder Glaser spricht, erst über Lesegläser und dann über die Hirngespinste der allzu Lesebegierigen.
In diesem Augenblick läutete es zur Vesper, und die Mönche schickten sich an, ihren Arbeitsplatz zu verlassen. Malachias bedeutete uns, daß auch wir nun zu gehen hätten; er werde mit seinem Adlatus noch bleiben, um aufzuräumen und, wie er sich ausdrückte, die Bibliothek für die Nacht herzurichten. William fragte ihn, ob er danach die Türen verschließen werde.
»Es gibt keine Türen«, erklärte der Bibliothekar, »die den Zugang zum Skriptorium von der Küche und vom Refektorium versperren, ebensowenig wie den vom Skriptorium zur Bibliothek. Das Verbot des Abtes muß stärker sein als jedes Schloß. Die Mönche haben Küche und Refektorium bis Komplet zu verlassen, und zu dieser Stunde verschließe ich eigenhändig die beiden unteren Pforten, damit keine Fremden und keine Tiere, für die das Verbot keine Wirkung hat, ins Aedificium gelangen. Danach bleibt das Gebäude leer.«
Wir gingen hinunter. Während die Mönche sich in die Kirche begaben, entschied William, daß der Herr uns gewiß vergeben werde, wenn wir für diesmal nicht am Vespergottesdienst teilnähmen (der Herr hatte uns in den folgenden Tagen noch viel zu vergeben!), und schlug mir einen kleinen Rundgang vor, um uns mit dem Gelände besser vertraut zu machen.
Wir gingen durch die Küche hinaus und schritten über den Friedhof. Einige Gräber waren sichtlich jüngeren Datums, andere trugen die Spuren der Zeit und kündeten von den irdischen Tagen der Mönche, die in den vergangenen Jahrhunderten hier gelebt hatten. Namen standen allerdings nicht auf den Gräbern, nur schlichte steinerne Kreuze.
Das Wetter verschlechterte sich. Ein kalter Wind war aufgekommen, und der Himmel hatte sich bezogen. Im Westen hinter den Gärten erriet man eine untergehende Sonne, und im Osten war es schon fast dunkel. Dorthin wandten wir unsere Schritte, gingen am Chor der Kirche vorbei und erreichten den Hinterhof, in den wir bereits am Nachmittag einen kurzen Blick hatten werfen können. Vor unseren Augen lagen die Ställe, im Norden fast an die Umfassungsmauer gelehnt, wo sie an den Sockel des Aedificiums stieß und einige Männer damit beschäftigt waren, den Bottich mit dem frischen Schweineblut abzudecken. Wir bemerkten, daß die Mauer an einer Stelle hinter dem Schweinestall etwas niedriger war, so daß man hinübersehen konnte. Als wir uns über die Brüstung beugten, sahen wir auf dem steil abfallenden Hang darunter allerlei Scherben, die der Schnee nicht ganz zu bedecken vermochte. Offenbar handelte es sich um Teile des Abfalls, der hier hinausgekippt wurde und sich den Berg hinunter ergoß bis zu jenem Seitenpfad, in den der entsprungene Brunellus sich heute morgen geflüchtet hatte. Ich sage ergoß, denn es handelte sich um einen breiten Strom von stinkendem Müll, dessen Geruch bis zu uns heraufdrang. Vermutlich pflegten die Bauern sich unten zu holen, was sie zum Düngen ihrer Felder gebrauchen konnten. Doch mit den Ausscheidungen der Tiere und Menschen vermischten sich andere Abfälle, festere Gegenstände, der
Weitere Kostenlose Bücher