Der Name der Rose
allein auf diesem kleinen Friedhof begraben wurden.«
»Ja wollt Ihr denn wirklich nachts in die Bibliothek eindringen?« fragte ich erschrocken.
»Wo die Geister verstorbener Mönche umgehen? Wo Schlangen und mysteriöse Irrlichter sind? Nein, lieber Adson. Ich hatte zwar heute morgen daran gedacht, nicht aus Neugier, sondern weil ich mich fragte, wie Adelmus gestorben sein könnte. Aber jetzt, da ich zu einer logischeren Erklärung neige, will ich, wenn ich alles in allem bedenke, die Consuetudines dieser Abtei respektieren.«
»Warum wollt Ihr dann aber wissen, wie man in die Bibliothek gelangt?«
»Weil die Wissenschaft, mein lieber Adson, nicht nur darin besteht, zu wissen, was man tun muß oder kann, sondern auch, was man tun könnte, aber lieber nicht tun sollte. Deswegen sagte ich vorhin zu unserem guten Glasermeister, daß der Wissende die Geheimnisse, die er aufdeckt, sorgsam hüten muß, damit nicht andere schlechten Gebrauch davon machen. Aber aufdecken muß er sie dennoch, und diese Bibliothek sieht mir ganz so aus, als ob die Geheimnisse dort eher zugedeckt blieben.«
Mit diesen Worten traten wir aus der Kirche, denn der Gottesdienst war zu Ende. Wir fühlten uns beide sehr müde und gingen in unsere Zellen. Ich rollte mich in meinen Winkel, den William scherzhaft meinen loculus nannte, und schlief sofort ein.
Zweiter Tag
METTE
Worin kurze Stunden mystischen Glücksgefühls unterbrochen werden von einem überaus blutrünstigen Ereignis.
Sinnbild und Wahrzeichen bald des lodernden Feuerteufels, bald des auferstandenen Christus, ist der Hahn das unzuverlässigste aller Tiere. Wir hatten in unseren Abteien sogar Exemplare, die zu träge waren, bei Sonnenaufgang zu krähen. Andererseits wird die Mette bei uns so früh gefeiert, daß es, zumal im Winter, noch tiefe Nacht ist und die ganze Natur noch schläft, denn die Mönche haben sich lange vor Tagesanbruch zu erheben und im Dunkeln zu beten, um in Erwartung des dämmernden Morgens die Finsternis zu erhellen mit der Glut ihrer frommen Andacht. Und so verlangt denn ein kluger Brauch unserer Klöster, daß einige Brüder am Abend nicht schlafen gehen, sondern die Nacht verbringen mit rhythmischer Rezitation einer vorgeschriebenen Anzahl von Psalmen, die so bemessen ist, daß sie ihnen die Stunden der Nacht anzeigt, dergestalt daß diese Fratres Vigilantes, wenn die Zeit gekommen ist, ihre Mitbrüder wecken können.
So wurden auch wir nun in jener Nacht von Mönchen geweckt, die mit einer Glocke durchs Dormitorium und durchs Pilgerhaus zogen, während einer von Zelle zu Zelle ging und in jede hineinrief Benedicamus Domino , was dann der also Geweckte mit einem Deo gratias beantwortete.
William und ich hielten uns an den benediktinischen Brauch: In weniger als einer halben Stunde waren wir bereit, den neuen Tag zu empfangen, und begaben uns in den Chor, wo die Mönche ausgestreckt auf dem Boden lagen und die ersten fünfzehn Psalmen rezitierten, bis die Novizen eintrafen, angeführt von ihrem Meister. Dann nahmen alle im Chorgestühl Platz und intonierten das Domine labia mea aperies et os meum adnuntiabit laudem tuam . Der Gesang stieg zum hohen Gewölbe der Kirche empor wie das Bittgebet eines Kindes. Alsdann bestiegen zwei Mönche die Kanzel und sangen den vierundneunzigsten Psalm, Venite exultemus , und heiß überkam mich das Glücksgefühl eines erneuerten Glaubens.
Die Mönche saßen im Chorgestühl, sechzig dunkle Gestalten, alle gleich anzusehen in ihren schwarzen Kapuzen und Kutten, sechzig Schatten, kaum aufgehellt vom Fackelschein auf dem hohen Dreifuß, und sechzig Stimmen erhoben sich fromm zum Lobe des Höchsten. Und während ich andächtig diesem bewegenden Wohlklang lauschte, diesem klingenden Vorhof der Freuden des Paradieses, fragte ich mich, ob denn wirklich diese Abtei ein Ort verstohlener Geheimnisse, sündhafter Heimlichkeiten und finsterer Drohungen war – erschien sie mir nun doch ganz wie ein Heiligenschrein, ein Hort der Tugend, Gehege der Weisheit, Gefäß der Besonnenheit, Turm der Gelehrsamkeit, Garten der Demut, Born des Friedens, Bollwerk der Festigkeit und Rezeptakulum aller Gottesfurcht.
Nachdem sechs Psalmen verklungen waren, begann die Lesung aus der Heiligen Schrift. Die Mönche folgten ihr reglos, den Kopf auf die Brust gesenkt. Bei manchen neigte er sich auch ein wenig zur Seite, und um zu verhindern, daß sie endgültig einnickten, ging zwischen den Reihen einer der Vigilantes umher mit einer kleinen Lampe:
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