Der Name der Welt
Umrahmt vom großen Bürofenster im Erdgeschoss des Hotels saß Flower Cannon. Sie saß auf einem Drehstuhl vor einer Computerkonsole, offenbar über ihrer Aufgabe in Tagträume versunken, erschöpft zurückgelehnt, ihr rechter Arm schlaff und ausgestreckt, in der lockeren Faust ein Stift.
In Gedanken sprach ich genauso viel mit ihr wie mit den anderen, genauso viel wie mit Bill, dem Mann aus dem Museum, sogar häufiger. Du, sagte ich zu ihr. Du führst dich zügellos auf, und es ist nicht gespielt. Du bist von einer seligen Unwissenheit. Du bist Kalifornien. Was meine ich mit «Du bist Kalifornien»?, fragte ich sie. Du bist groß, und dein schillerndes Wesen reicht bis an den Rand des Pazifiks. Es gibt keinen Grund, solche Dinge nicht auszusprechen, wenn niemand zuhört.
Ans Fenster zu klopfen schien mir unangebracht: Ich hätte sie wahrscheinlich nur beunruhigt – eine undeutliche Gestalt in einer Gasse, und sie klopft. Andererseits entsprach mir diese Gestalt ziemlich genau.
Ich ging um die Ecke herum zum Eingang des Gebäudes, um in Erfahrung zu bringen, ob ich sie nicht finden und ihr hallo sagen könnte. Die Lobby war mit poliertem Holz und Messing ausgekleidet – luxuriös, still. Ich war allein. Nicht einmal ein Concierge oder Nachtportier. Von der Rezeption aus konnte ich nach hinten ins Büro schauen, wo sie neben ihrem undeutlichen Fensterspiegelbild saß.
Es war jemand ganz anderes, eine sehr viel blondere Frau mit einem für die Jahreszeit ungewöhnlich tiefgebräunten Gesicht, die spät noch arbeitete und einen Moment ihren Gedanken nachhing. Es war nicht Flower Cannon.
Ich starrte sie an, bis ein Mann, der dort absolut keine Funktion zu haben schien, auf mich zukam und sagte: «Sir, wir würden es begrüßen, wenn Sie in der Lobby nicht rauchen.»
Draußen vor dem Hotel graupelte es ein wenig. Ich trat unter die Markise zurück und hielt Ausschau nach J. J. Ich dachte über meine Frau nach. Während ich mir früher jede Erinnerung an sie ausgetrieben hatte, merkte ich neuerdings, dass ich festzuhalten versuchte, was ich konnte, und es wurde weniger und weniger. Anne trank viel schwarzen Kaffee. Sie mochte Kaugummi mit Zimtgeschmack. Anne war schmal, intelligent, humorvoll, süß. Ein Zappelphilipp. Sie räusperte sich häufig. Sie runzelte die Stirn, wenn sie etwas lustig fand. Menschliche Dummheit amüsierte sie, sie trug nicht schwer an der Welt, und das war mir wichtig. Ich brauchte sie. Durch alle Höhen und Tiefen war sie, im banalsten, trivialsten Sinn, meine Frau gewesen. Und nun tauchte plötzlich Flower Cannon auf.
Ich würde nicht sagen, ich war verknallt. Meine Gefühle für sie waren deutlich, aber beherrschbar – hilfloses Verlangen, Vatergefühle und der leise, grollende Neid eines nicht mehr jungen Menschen auf einen, der so vital war. Gefühle also, die sich kaum von denen unterschieden, die ich für jede junge Frau der Welt empfand – verschieden nur in ihrer Intensität; stärker.
Frauen hatten mich immer gereizt. Die Studentinnen natürlich, sogar die Mädchen an der Highschool, die ich früher unterrichtet hatte. Aber das legte sich ziemlich, als ich selbst Vater eines kleinen Mädchens wurde. Danach sah jede Frau wie jemandes Tochter aus. Und nachdem ich meine eigene Tochter verloren hatte, begannen sie alle, wie sie auszusehen – wie Elsie auszusehen, richteten sich in den mit dem ungelebten Leben meiner Tochter erfüllten Jahren ein, während Elsie aus ihren Augen heraus nach irgendetwas Ausschau hielt.
Seltsamerweise trug sie gar nicht den Namen Elizabeth oder sonst einen, der mit Elsie verwandt gewesen wäre. Sie hieß, was zweifellos viel schöner war, Huntley, aber als Baby hatte sie ein Stofftier gehabt – heute nennt man das wohl «Kuscheltier» –, das der Hersteller Elsie getauft und auf dem Bärinnenbauch auch so beschriftet hatte. In jener Welt, der Welt des Babybettchens, und in jenem Lebensalter waren die Identitäten fließend. Es gab nicht einmal Phantasien – alles war Phantasie und Traum. Durch eine Art Zauber nahm das Kind Huntley den Namen von Elsie, der Bärin, an und behielt ihn. Auch die Bärin behielt ihn. Alle hießen am Ende Elsie, alle Kuscheltiere, auch Anne. Und eine Weile sogar ich.
Alles wurde Elsie, und in gewisser Weise ist das noch heute so. Indem ich Anne verlor, verlor ich die Frau meines Lebens. Aber indem ich Elsie verlor, verlor ich uns alle.
«Mike?» Es war J. J., der vor dem Italiener stand, nach rechts und links schaute
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