Der Name der Welt
und sich Handschuhe überzog. «Da wären wir endlich!», sagte er zu mir. Vorsichtig ging ich die rutschigen Stufen hinunter.
Mittlerweile, in dieser Zeit der Rückbesinnung, sah ich in mir immer weniger Elsie und immer mehr Mike Reed. Immer weniger den Mann, der seine Familie verloren hatte, und immer mehr einen anderen, der zufällig keine hatte.
«Es ist komisch», sagte J. J., während ihm die Graupelkörner auf die Schultern fielen und dort schmolzen, «Trevor Watt war mal mein Lehrer, mein wichtigster Lehrer. Eine Weile war er der wichtigste Mensch in meinem Leben. Also, ich meine nur, ich ließ mir jede Nuance seiner Worte auf der Zunge zergehen. Wissen Sie, wie es mit so einem Lehrer sein kann, wenn man jung ist und noch nichts Eigenes hat, nur das, was er einem zukommen lässt? Jedes Wort von ihm war Gold wert. Dann hasste ich ihn plötzlich. Auf einmal war er meiner ganzen Verehrung unwürdig. Dabei konnte er gar nichts dafür. Er entpuppte sich nur als Mensch. Und ich brannte vor Hass auf ihn. Wünschte ihm den Tod. Und nun, da die beiden da seinen Namen fallengelassen haben und er wirklich tot ist … ging mir plötzlich auf, dass ich nicht mehr an ihn gedacht habe seit … ich weiß es nicht mal mehr. Es muss Jahre her sein.»
Als J. J. mich vor meinem Haus absetzte, bat ich ihn nicht herein. Ich entschuldigte mich auch nicht, obwohl er sogar ausstieg und mich zur Tür begleitete. Wir standen dort und lauschten den Geräuschen einer Party auf der anderen Straßenseite, bestimmt Studenten, die es nach den Semesterzwischenprüfungen krachen ließen: eine wiederholt zuschlagende Fliegentür, Gelächter und das Dump-dump-dump ihrer Musik.
J. J. schob die behandschuhten Hände in die Taschen seiner Lederjacke und sagte: «Ach! Die Jugend.»
Ein weißer Wagen aus den frühen Siebzigern, ein großer alter Moby Dick von einem Automobil, jagte um die Ecke in unsere Straße, wobei mit einem fröhlichen Knall ein Vorderreifen platzte, machte eine Pirouette, geriet mit den Hinterrädern auf den Gehsteig, wo sie wütend durchdrehten, bis sie Halt fanden, dann schoss das Fahrzeug wieder auf die Straße, und der Motor soff ab. Offenbar zufrieden mit diesem Parkplatz beinahe mitten in der Sackgasse, stiegen vorsichtig zwei junge Männer aus dem Wagen und stolperten hinüber zu dem Haus, in dem die anderen lachten.
J. J. sagte: «He – Jungs – entschuldigt mal –»
Sie schlenderten ins Haus, er rief lauter: «He!», schrie dann: «HE –», und bremste sich.
Ein paar Sekunden schwiegen wir. Der Partylärm hielt unvermindert an. «Ich würde nicht nochmal jung sein wollen», sagte ich, um einen verständnisvollen Ton bemüht.
«Ach, na ja», sagte er. Er lächelte. Im Licht der Straßenlampen glitzerten Tränen in seinen Augen. «Ich mach mich auf den Weg», sagte er. «Danke, dass Sie mit mir essen gegangen sind.»
«Jederzeit wieder. Gern.» Ich hielt es für gut möglich, dass wir uns in Zukunft öfter treffen würden, wir zwei alleinstehenden Männer.
Das Ticken des Graupelregens hörte nach etwa einer Stunde wieder auf. Die Party schräg gegenüber krängte weiter durch die Nacht. Seit über zwei Jahren war dieser für gewöhnlich ruhige Stadtteil mein Viertel. Ich hatte ein ganzes kleines Haus für mich. Ich schlief in einem Zimmer auf dem Dachboden. Das Fenster ließ ich weit offen, weil es dort oben immer warm war. Die Straße endete an einer Reihe von Bahngleisen, aber offenbar gab es wichtigere Strecken durch die Stadt, denn nur selten hörten wir einen Zug vorbeifahren.
Ich lag unter der niedrigen Zimmerdecke im Bett und lauschte der Party auf der anderen Straßenseite, bis die Musik leiser wurde und die Anzahl der Stimmen abnahm, obwohl die Stimmen mit fortschreitender Nacht immer weiter trugen. Ungefähr gegen drei Uhr morgens wurde ich von Rufen auf der Straße geweckt.
«SCHICKT EURE FRAUEN RAUS!»
«SCHICKT EURE FRAUEN RAUS!»
Wieder und wieder und wieder erhoben sie diese Forderung. Den Geräuschen nach zu urteilen, zwei junge Männer, vielleicht dieselben, die auf drei Reifen mitten in die Siedlung gerauscht waren. Eine gute halbe Stunde schrien sie so, meist abwechselnd, manchmal gemeinsam, aber nie unisono, holten zwischendurch Luft, lachten und redeten und fingen wieder an:
«SCHICKT – EURE – FRAUEN – RAUS!»
«SCHICKT! EURE! FRAUEN! RAUS!»
«SCHICKT! – EURE! –», bis sie heiser waren.
Dieses Theater verhalf dem Frühling vollends zum Durchbruch. In den nächsten
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