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Der Name der Welt

Der Name der Welt

Titel: Der Name der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Denis Johnson
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paar Wochen stellten die Studenten durchhängende Sofas auf die Veranden ihrer Wohnheime, warfen Bücher und Schuhe in die Ecke und holten ihre Gitarren heraus. Man konnte in der Abenddämmerung am offenen Fenster sitzen und ihr Gejohle und Gelächter hören wie die Schreie von Wildtieren. Ständig flitzten sie über den plattgedrückten, kaputten Rasen, den das Tauwetter freigelegt hatte, warfen Basebälle, Frisbeescheiben und Wasserballons. Sie lagen in Paaren am Fluss oder fuhren langsam, lauten Rap spielend, in offenen Cabriolets die Straßen entlang, so ähnlich wie die Lautsprecherwagen vergangener Zeiten, die Reklame für die abstoßendsten Geheimnisse der Menschheit gemacht hatten. Ich genoss das alles. Ich mochte die jungen Studenten. Ich glaube, in meinem ersten Frühjahr dort haben sie mir das Leben gerettet.
    Bis ich Flower Cannon wiedersah, wurde es Mitte April. Es war warm. Gegen Mittag dieses Tages trug ich nur noch Jeans und T-Shirt und hatte mir das Sportsakko über die Schulter geworfen. Auf der Promenade kamen mir die Menschen entspannt und lebendig vor. Eine Combo aus fünf Studenten spielte in einem winzigen Gartenpark Jazz. Auf dem Rasen waren Kinder. Es wurden Luftballons verkauft. Ein Schnappschuss hätte vor Lachen aufgerissene Münder und in der Luft schwebende Hunde gezeigt.
    Die zwei Männer, die den Schuhputzstand am örtlichen Busbahnhof betrieben, hatten ihre Bank auf den Gehweg hinausgestellt. Ich erklomm einen der Stühle und streckte ihnen meine alten Wanderschuhe hin. In Flughäfen und Hotels lehnten es die Profi-Schuhputzer meistens ab, sich an diesen Tretern zu versuchen, weil ich das Leder dick mit Imprägnierfett eingeschmiert hatte. Aber diese beiden, ein weißhaariger alter Schwarzer und sein Kompagnon, der sein Sohn oder gar Enkel gewesen sein mochte, putzten sie jedes Mal gut gelaunt und walkten anschließend ein paar Tropfen Öl hinein.
    «Polieren hat wohl keinen Sinn mehr», sagte ich, wie schon so oft in den vergangenen vier Jahren.
    «Macht nix», sagte der Alte. «Mit ’nem Klacks Sattelseife und Nerzöl kriegen wir die genauso sauber.»
    Der jüngere Mann kümmerte sich darum, während ich, die Füße auf die Metallstützen gestellt, auf dem erhöhten Stuhl saß und den Passanten zusah.
    Der Alte, der eine Weile im Bahnhof verschwunden gewesen war, um irgendetwas zu erledigen, kam zurück und begann vornübergebeugt, in Hose und Pullover, beides marineblau, mit einem kurzen Besen die Umgebung des Standes sauber zu fegen. Er schien verloren in seiner eigenen Welt, bis er sich plötzlich an seinen Kompagnon wandte. «Hast du’s ihm gesagt?»
    «Nein.»
    «Dann sag ich’s ihm jetzt.»
    Der andere schwieg.
    «Das Zeug, das Sie da kaufen», sagte der Alte zu mir, «es kommt aufs selbe raus, wenn Sie sich einfach ’ne große Dose Vaseline besorgen. Was andres als Petrolat ist da auch nicht drin.»
    «Oh», sagte ich, «Sie meinen das Zeug zum Imprägnieren.»
    «Ja. Das ist bloß Vaseline. Reicht völlig, sich Vaseline zu besorgen. Oder irgendwas in der Richtung.»
    «Ja. Gut.»
    «Kaufen Sie sich am besten gleich ’ne große Dose», sagte der Alte, «die große Sparpackung. Dann sind Sie versorgt.»
    «Dann sind Sie versorgt», sagte der junge Mann.
    «Was ich gern wissen würde», sagte der Alte, «wie kann der bloß jedes Wochenende da zum Fluss runterfahren, dreizehn-, vierzehnhundert Dollar verlieren und zurückkommen, als war das nix.»
    «Tja, hm. Weiß ich auch nicht genau», sagte der junge Mann.
    Ich blickte vom einen zum anderen und schlussfolgerte, dass sie nicht mich meinten.
    «Bleibt übers Wochenende, verliert dreitausend Dollar, als wär das gar nix.»
    «Irgendwoher wird er’s ja kriegen.»
    «Drei-, viertausend», sagte der Alte. «Jedes Wochenende fährt er hin.»
    «Vom Araber kriegt er’s.»
    «Nie gewinnt er was. Jedes Mal, wenn er da zum Fluss fährt, verliert er ‘nen Haufen Geld.»
    «M-hm. M-hm. M-hm. Weiß ich doch», sagte der Jüngere ziemlich selbstgewiss.
    «Da kommt grad der Fluss-Bus.»
    «Der von Eddie?»
    «Nö. Eddie fährt doch den Fluss-Bus gar nicht mehr. Eddie hat ‘ne Schwester …»
    «‘ne Schwester? Eddie?» Der jüngere Mann war jetzt mit meinen Schuhen fertig. Er klopfte zweimal mit dem Bürstenholz an jeden und krempelte meine Aufschläge herunter.
    «Klar hat der ‘ne Schwester … Na also: Wenn da irgendwo Wasser ist», sagte der Alte zu mir. «Dann nur zu, stellen Sie sich ruhig bis zu den Aufschlägen rein, Ihre

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