Der Name der Welt
wahrscheinlich nicht dringend brauchte. (Ich bummle gern durch die Gänge und denke mir dabei spontan Gerichte für die nächsten paar Tage aus. Danach gammelt das Zeug zu Hause vor sich hin, während ich mich im Restaurant beköstigen lasse.) Ich stand an der Kasse, las die Schlagzeilen von Midnight und Globe und dem National Enquirer und versuchte mir die Botschaft der Boulevardpresse nicht zu Herzen zu nehmen: Die Mächtigen sind verworfen; Glamour macht das Elend wett; die Unschuldigen werden vergewaltigt und umgebracht werden. Und dann sah ich Flower Cannon, die gebückt und mit gestreckten Armen einen Einkaufswagen vor sich herschob.
Sie war ziemlich aufgetakelt in einem schwarzweißen Hosenanzug mit gepolsterten Schultern, die scharf hervorstanden. An den Füßen knöchelhohe weiße Stiefeletten. Der erste, nachhaltige Eindruck war der einer Raumfahrerin aus einer Sdence-Fiction-Mär. Ich wartete draußen vor dem Laden, in der Hoffnung, ihr hallo sagen zu können, aber sie kam zum anderen Ausgang heraus. Ich lief ihr über den Parkplatz hinterher und rief ihren Namen, aber sie nahm diesen Mann auf dem kochend heißen Teer, der eine braune Papiertüte mit Einkäufen an der Hand hin- und herschwang und «Flower! Flower!» rief, einfach nicht wahr.
Ich blieb stehen und beobachtete, wie sie in ihren kleinen Schrägheck-Kombi stieg, dann ging ich zu meinem neuen deutschen Gebrauchtwagen und folgte ihr. Ich erlebte den Traum der vergangenen Nacht nach, nur waren nicht Flure der Schauplatz des Geschehens, sondern schimmernde schwarze Straßen.
Flower fuhr nicht schnell. Ich hätte sie einholen und ihr ein Zeichen geben können, aber ich tat es nicht. Wir fuhren etwa anderthalb Kilometer auf dem Alten Highway stadtauswärts und bogen dann links auf eine schmale Betonstraße ab, die schnurgerade durch Luzernefelder, Roggenfelder und kniehoch stehenden Mais nach Westen führte.
Ich ließ die Fenster offen. Die Welt war stumm und würzig, leuchtend grün. Ein paar Kilometer weiter bog Flower wieder links ab auf den geschotterten Hof eines einstöckigen grauen Gebäudes und parkte neben zahlreichen anderen Fahrzeugen inmitten dieser platten Weite. Nichts zu sehen außer zwei entfernten Getreidesilos aus Beton, die über den Horizont ragten. Jedes noch so leise Geräusch war deutlich zu hören, und schon trug ein Lüftchen, die leichte, gleichmäßig über die Erdkruste streichende Brise, es in die Ferne davon: das Klacken ihrer Autotür, ihre Absätze und Schuhspitzen auf dem Schotter. Während sie auf das Gebäude zuging, blickte sie ganz ohne Neugier zu mir her.
Es war ein primitiver Bau, beinahe auf dem Niveau eines Wohncontainers, aber innen viel größer, als er von außen gewirkt hatte. Ein breiter Gang führte zu beiden Seiten aus einem Foyer heraus, in dem eine Menge Leute herumstanden, ohne sich zu drängen. Eine Ahnung von Büros, Besprechungszimmern und Unterrichtsräumen entlang der behördenähnlichen Flure. Unmittelbar vor einem öffneten sich Flügeltüren auf einen Raum, der, nach dem zu urteilen, was ich überblicken konnte, groß genug war, um Hundertschaften aufzunehmen. Ich meinte, Kirchenbänke zu sehen. Langsam gingen die Leute hinein und nahmen Platz. Mühelos fand ich Flower unter all den Farmern und Farmersfrauen. Sie stand in ihrem schwarzweißen Hosenanzug an den Flügeltüren, vielleicht ein wenig clownesk, aber sehr stilvoll und gepflegt, und unterhielt sich in Zeichensprache mit einem ungefähr sechzehnjährigen Jungen. Er muss taub gewesen sein. Ich war fasziniert. Ohne aushelfende Stimmen nutzten sie, was immer sie zur Verfügung hatten, die Gesichter beseelt und sprühend vor Emotionen, die schnellen, lebhaften Gebärden schossen ihnen durch die Arme und zu den Fingern hinaus; sie machten das wie Stummfilmdarsteller. Und kaum erinnerte ich mich an die alten Stummfilme, verstand ich schlagartig, in welch leerem innerem Frieden der Junge lebte. Er hatte ein schmales, feingeschnittenes Gesicht, blondes Haar, blaue Augen, einen hellen Teint. Nichts von der aufbrechenden Haut oder der Unbeholfenheit der Pubertät.
Die Leute wirkten freundlich. Wo immer ich hinsah, erntete ich ein Nicken und ein Lächeln. Bald näherten sich mir zwei Männer. Einer hieß mich willkommen. Der andere sagte, sie hätten gerade erst auf den Sommerplan umgestellt. Deshalb, fügte der erste hinzu, sei dies keine Bibelstunde, wie ich vielleicht erwartet hätte.
Ich machte mir nicht die Mühe, ihnen zu sagen,
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