Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Name der Welt

Der Name der Welt

Titel: Der Name der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Denis Johnson
Vom Netzwerk:
dass ich gar nichts erwartet hatte oder alles andere als das: Ich war bei einem Gesangsabend gelandet. Es handelte sich um eine Art religiöse Vereinigung, und dieses Gebäude war ihre Kirche. Einer meiner Gastgeber führte mich in den großen Raum, in dem viele Dutzende rustikaler Holzbänke vor einem kleinen Podium standen. Wir blieben hinten, von wo aus mein Begleiter, ein Mann so klein wie ich, aber kräftiger, den Blick schweifen ließ. Ein breiter Gang im Zentrum teilte den Saal. Die Reihen füllten sich, Frauen links, Männer rechts.
    Mein Gastgeber sprach mich als bedürftige Seele an, als tastenden Geist. «Bei uns geht es nicht so sehr um die Doktrin. Wir haben zwar eine Schrift, aber wie gesagt, um die Doktrin geht es bei uns nicht. Haben Sie schon eine –» Der andere Mann kam zurück und drückte mir ihre Schrift in die Hand. «Hier», sagte mein Freund. «Sie werden sehen, dass da gleich im ersten Abschnitt, wo es heißt, das Wichtigste ist – nun ja, schauen Sie sich’s einfach an. Das Wichtigste ist ein –» Er konnte sich nicht überwinden, es auszusprechen. Dadurch schien es, was immer es war, umso bedeutsamer zu sein.
    Wir setzten uns zu dritt auf die Männerseite. Mir wurde klar, dass die um mich versammelte Menge zu einer dieser protestantischen Freikirchen gehörte, die auf die Rheinland-Anabaptisten zurückgehen, wie die Mennoniten oder die Amischen. Ich hätte jedem Einzelnen von ihnen in der Stadt begegnen können und es nie bemerkt, aber in dieser großen Gruppe war deutlich zu erkennen, dass sie eine Kleiderordnung hatten. Alle Frauen trugen Röcke oder Kleider, ziemlich lange, dazu flache Schuhe und Socken, und ihr langes Haar war zu dicken Zöpfen gewunden oder aufgesteckt. Kein Mann ohne Schnurrbart oder Vollbart. Ich stach sogleich als Außenseiter hervor, glatt rasiert, wie ich war, und mit bloßen Armen in meinem kurzärmligen Hemd, während ihre Hemden, bei Männern wie Frauen, am Handgelenk geknöpft waren.
    Bald waren die Reihen fast gehüllt. Die Stimmen erstarben. Wir saßen still, schauten nach vorn. Niemand sagte ein Wort. Ich hörte kein Husten, kein Räuspern. Ganz leiser Vogelgesang drang von den Feldern herein. Fünf Minuten oder noch länger blieb das hölzerne Podium vorne leer, und wir starrten darauf.
    Dann schlug ein Mann, nur eine Stimme aus der Menge, vor: «Lasset uns beten.»
    Die Versammelten wären nicht schneller zu Boden gegangen, wenn jemand in ihrer Mitte mit einem Maschinengewehr das Feuer eröffnet hätte. Mit einer einzigen Bewegung sanken alle auf die Knie, die Gesichter nach hinten, die Ellbogen auf den Bänken. Ich tat es ihnen, von einer menschlichen Schwerkraft vom Sitz gerissen und abwärtsgezogen, nach und kauerte, die Ellbogen auf der Sitzfläche, die Stirn gegen die Fingerknöchel gepresst, zu Tode erschrocken da.
    Jemand sprach ein Gebet, aber ich bekam nichts davon mit.
    Dann, als wäre nichts geschehen, als hätte die Menge niemals diesen erstaunlichen Kollaps erlitten, kletterten wir wieder auf unsere Plätze. Erneut war es still.
    Nach einer Weile sagte eine Männerstimme: «Bruder Fred, warum suchst du nicht ein Lied aus?» Ich habe keine Ahnung, wo derjenige, dem diese Stimme gehörte und den ich nicht sehen konnte, plötzlich das Selbstvertrauen hernahm, sie zu erheben, oder weshalb er Bruder Fred nahelegte, unser Vorsänger zu sein.
    Ein junger Mann stand auf, zwängte sich an einer Reihe von Knien vorbei aus seiner Bank und eilte durch den Gang zum Podium, wo er ein Gesangbuch öffnete. Er sah aus wie alle anderen: lange Koteletten, beinahe Schläfenlocken, Schnurrbart und weißes Hemd. Alles um mich herum zog Gesangbücher aus Fächern in den Bankrücken. «Nummer zwo achtunddreißig?», sagte er. «Wie wär’s mit zwo achtunddreißig?» Auf dem Deckel des Buches, das ich aus dem Fach nahm, stand nichts als der Name Friesland. Ich fand das Lied –
     
    O süße Stunde des Gebets,
    Die mich zu meinem Vater ruft,
    O keine Pflicht der Welt mich bannt,
    Mach all mein Wollen Ihm bekannt.
    Wenn sie von Trauer ward geschunden.
    Hat meine Seele Trost gefunden.
    Bei dir war sie geborgen stets,
    O süße Stunde des Gebets.
     
    Ihr Gesang war noch erstaunlicher als ihr Beten. Sie sangen in vielstimmiger Harmonie, in einer Tonfülle und mit einem Können, das nicht einstudiert, sondern natürlich wirkte, erwachsen aus Veranlagung, aus Talent. Ich hörte keinen der üblichen Krächzer, niemanden, zu dem man hätte hingehen wollen, um zu

Weitere Kostenlose Bücher