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Der Name der Welt

Der Name der Welt

Titel: Der Name der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Denis Johnson
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meinem Wagen kamen. «Fährt er schnell?»
    «Nicht so schnell, wie Sie es gerne hätten.»
    «Ach was, diese Dinger werden doch für deutsche Autobahnen gebaut.»
    «Die schon, ich nicht. Ich fahre meist langsamer als erlaubt. Aber er liegt gut auf der Straße», sagte ich, weil ich mich irgendwie zu einer Rechtfertigung genötigt sah.
    Ich nahm die Schrift der Friesland-Gemeinschaft aus der Brusttasche und legte sie auf das Armaturenbrett, als ich den Wagen anließ. Flower griff danach und sah sie sich an, aber dann sagte sie nur: «Wissen Sie, wie er sich anhört, Michael? Wie ein mechanisches Tier.»
    Und wahrhaftig, der Motor machte beim Beschleunigen ein äußerst mechanisches und zugleich kehliges Geräusch. Wir reihten uns in die Schlange der Fahrzeuge ein, die auf den Highway hinausfuhren. Das Konformitätsbestreben der Friesländer schien tief auf ihre Typwahl beim Autokauf einzuwirken: Kleinbusse, gut ausgestattete Pick-ups, selten mal eine Limousine, alle in dunklen Farben gehalten und ziemlich neu.
    «Wohin, sagten Sie, fahren wir?»
    «Zu meinem Atelier.»
    «In der Stadt?»
    «Nein. Hier. Etwa drei Kilometer von hier.»
    «So weit draußen auf dem Land?»
    «Es ist in der Tyson School. Ich wohne dort.»
    Tyson war wohl ein Städtchen oder ein Dorf, ich hatte keine Ahnung.
    Die ganze Zeit fühlte ich mich obenauf, in einem seltsamen neuen Medium oder Element – ich sage Ihnen: Ich befand mich auf einem Höhenflug in ein vielversprechenderes Leben.
    Mitten in einem Kirchenlied war Gott verschwunden. Es kam mir so vor, als erwachte ich aus einem Alptraum, in dem ich gelähmt gewesen war. Als stellte ich plötzlich fest, dass es sogar die Schwerkraft nur in bösen Träumen gab.
    Und hier an meiner Seite saß Flower Cannon, gekleidet wie eine aus dem Andromedanebel herabgeschwebte Kadettin in ihrem schwarzweißen Hosenanzug. Ich sagte: «Flower, erklären Sie sich. Interessieren Sie sich dafür? Was haben Sie dort gemacht?»
    «Ich war» – und sie zögerte – «wegen der Musik da.»
    «Woher kennen Sie ihn? Mike, meine ich.»
    «Mike? Den anderen Mike?»
    «Mike Applegate.»
    «Aus dem Zeichenunterricht.»
    «Bitte?»
    «Mike Applegate.»
    «Ich meine –»
    «Ich kenne ihn aus dem Zeichenunterricht. Er war mein Lehrer.»
    «Ich dachte schon fast, Sie hätten ‹Gesangsunterricht› gesagt.»
    Sie stutzte … «Ich glaube nicht, dass er singt.»
    In ihrer Stimme hörte ich wieder dieses Timbre, dieses reizvolle, gefährliche Timbre – als säße ihr das Lachen im Hals und bildete dort einen Hallraum der Ausgelassenheit.
    «Es war ein Zwölfstundenkurs, jeweils zweistündig an sechs Abenden. Die Zeit verflog, und wir haben schnell gelernt, weil unser Lehrer nicht sprechen konnte. Deshalb zeichne ich – und alle anderen, die den Kurs besucht haben – anders als die meisten Leute, die hören können.»
    «Wie anders?»
    «Sie reden beim Zeichnen. Ich bleibe stumm.»
    «Was bin ich froh, dass Sie jetzt reden.»
    Sie war großartig im Gespräch, unabhängig vom Thema. Ihre Sprechpausen waren wie Teiche. Man wollte näher heran, bis man in sie eintauchte. Ihr Gesicht war noch ganz erhitzt und belebt von der vorangegangenen Unterhaltung mit dem tauben Michael. Ich konnte kaum den Blick davon abwenden und nach vorn schauen, aber es war egal. Die Straße führte gnadenlos geradeaus.
    «War er nur wegen des Wagens da?»
    Pause.
    «Wegen der Musik.»
    Wir fuhren langsam, umspült von einem Ozean aus Chlorophyll. Hier draußen gab es nichts außer winzigen, weit auseinanderliegenden Gemeinden, jede mit zwei oder drei monumentalen Getreidesilos in der Mitte. Ich kannte von keinem dieser Orte den Namen, nicht, dass es etwas ausgemacht hätte, und wir kamen nicht einmal bis zum ersten, der wohl Tyson gewesen sein wird.
    Ich sagte zu ihr: «Ich bewundere Sie.»
    Sie holte Luft zum Sprechen und schien es sich dann anders zu überlegen. Sagte schließlich; «Warum?»
    «Weil Sie verrückte Sachen tun, ohne gleich verrückt zu sein.»
    «Wenn Sie mich nicht für verrückt halten», sagte sie, «sind Sie nicht ganz bei Trost.»
    «Ich erinnere mich an eine Bemerkung, die Sie mal gemacht haben ~ und weil ich meinte, dass Sie mir dabei in die Augen sahen, erinnere ich mich so genau daran. Sie sagten: ‹Lahm? Oder zahm?› Na ja, das steht hier nicht zur Debatte. Aber der Grund dafür, dass die meisten von uns so zahm und vernünftig sind, ist doch der: Wir hangeln uns gerade so durchs Leben.
    Nur Sie tun das

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