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Der Name der Welt

Der Name der Welt

Titel: Der Name der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Denis Johnson
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sagen: «Bitte singen Sie nicht mehr mit.»
    Ich ließ Flower Cannon nicht aus den Augen. Sie saß inmitten der Frauen wie ich inmitten der Männer. Ich wünschte, ich hätte nahe genug gesessen, um ihre Stimme heraushören zu können, ja, lassen Sie mich das noch bekräftigen, indem ich gestehe, dass ich es geradezu schmerzlich bedauerte, sie nicht singen zu hören. Sie sah ganz anders aus als die anderen Frauen. Die trugen Röcke, sie trug Hosen. Keine andere Frau war ohne Kopfbedeckung, keine ließ ihr Haar ungebändigt fallen oder nackte Arme sehen. Flower floss das lange rote Haar über den Rücken. Ihre Bluse war ärmellos, Schweißflecken verfärbten ihre Achselhöhlen. Ich machte mir eine gedankliche Notiz – irgendwann musste ich in eine Apotheke gehen und mich erkundigen, ob Schweiß aus derselben Substanz bestand wie Tränen.
    Der blonde Junge, mit dem sie sich unterhalten hatte, saß zwei Reihen vor mir. Noch einmal wurde mir bewusst – nicht nur bewusst, die Erkenntis nahm mir den Atem –, dass der Junge in vollkommener Stille lebte. Warum um alles in der Welt war er hier? Er saß ganz ruhig, versunken und für sich. Bei dem, was er hörte, hätte er genauso gut allein um Mitternacht in dieser Kapelle sitzen können. Vielleicht war er auf irgendeine fühlbare Weise für die Luftschwingungen empfänglich, die der Zusammenklang Hunderter von Stimmen erzeugte – ja, wie vieler eigentlich? Während das Lied um mich wogte wie Weizen im Wind, ertappte ich mich beim Zählen. Vierzehn Reihen, ungefähr ein Dutzend Leute zu jeder Seite des Gangs: etwa dreihundert insgesamt, und alle sangen wundervoll. Ich fragte mich, wie sich das Ganze wohl draußen auf den einsamen grünen Feldern unter dem wolkenlosen blauen Himmel anhören würde, wie herzergreifend schwach selbst ein solcher Chor in die unendliche Gleichgültigkeit des Weltalls hinaufklänge. In unser aller Namen fühlte ich mich einsam, und auf einmal wusste ich, da war kein Gott.
    Ich dachte nicht oft über das nach, was die Leute Gott nannten, aber seit einiger Zeit schon hatte ich es gehasst, hatte diesen Killer, diesen Verbrecher gehasst, in dessen leeren, silberhellen Augen niemand zu unbedeutend, zu unauffällig, zu unschuldig und zu gering war, um bei der Zuteilung von Tragödien übersehen zu werden. Ich hatte dieses übermächtige Es als Dunkelheit und Last empfunden. Nun fiel beides von mir ab. Eine fest um mich gezurrte Kette war zerbrochen. Jemand hatte mir die Augen geöffnet. Ein gewaltiges Läuten in meinem Kopf hatte aufgehört. Und das verdankte ich dieser großartigen, entzückenden Sängerschar.
    Ich bin auch so einer, der glaubt, einen Ton halten zu können, deshalb sang ich mit, und niemand bremste mich. Bis kurz nach sechs, nach meiner Uhr genau eine Stunde, priesen wir das leere Universum. Ich spürte, wie uns das Herz weit und weiter aufging in einem endlosen Zwischenreich, in dem nichts uns etwas anhaben konnte. Meine frohlockende, befreite Seele drang mir aus der Kehle.
    Nach dem Singen unterhielt ich mich draußen mit meinem selbsternannten Gastgeber, der mir erklärte, dass die Freikirche nach der Gegend ihrer Herkunft im Norden der Niederlande Friesland-Gemeinschaft hieß, wenn ich das richtig verstanden habe. Während er mir auseinandersetzte, dass sie nichts von Versicherungsgesellschaften, Militärdienst und staatlicher Erziehung hielten, sah ich mich nach Flower um.
    Sie fand uns zuerst. Offenbar hatte sie mich vorher doch bemerkt. Sie begrüßte mich und stellte ihren jungen Begleiter vor.
    «Hier ist noch ein Mike. Mike Reed, das ist Mike Applegate. Mike hat heute Abend ein Date.»
    «Welcher Mike?»
    «Beide. Ich leihe Mike Applegate mein Auto. Und Mike Reed könnte mich vielleicht zu meinem Atelier mitnehmen. Ich könnte Ihnen eine kleine Suppe kochen.»
    Ich sagte, ich hätte eine Tüte voller Lebensmittel und einen BMW, und sie sagte, das sei perfekt. All das wiederholte sie mit Mimik und Gestik dem jüngeren Mike. Bemerkenswert, wie diese Mimik ihre Züge aufhellte und die Helligkeit auf ihn abstrahlte. Die abendlichen Verheißungen standen ihm leuchtend ins Gesicht geschrieben. Er streckte die flache Hand aus, und sie deutete auf ihr Auto und sagte: «Die Schlüssel stecken.» Was er verstand.
    Wir sahen den blonden jungen Michael mit etwas eckigem Schwung in ihren Kombi steigen, zwei kurze Rauchzeichen aus dem Auspuff speien und sich dann schnell entfernen.
    «Na, der ist ja schnittig», sagte sie, als wir zu

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