Der Name der Welt
Cello?»
Sie lachte. «Im Musikseminar. Ich spiele in einem Kammermusikensemble.»
«Richtig. Das habe ich gehört.»
«Auch darin bin ich ziemlich schlecht. Aber man kann fast jedes Stück spielen, wenn man nur lange genug übt.»
«Wo wir schon bei so persönlichen Dingen sind», sagte ich, «komme ich lieber gleich zu der Frage, die jeden interessiert: Wie lautet Ihr zweiter Vorname?»
«Ich habe keinen», sagte sie. «Auf allen Formularen steht N. M. N., no middle name, aber meine Schwestern haben das abgewandelt und mich M ’n’ M genannt.»
«Schwestern! Es gibt also noch mehr von Ihrer Sorte? Was für eine Welt.»
«Zwei Schwestern. Eine ist mit einem arbeitslosen Arschloch von Möchtegern-Schauspieler verheiratet, und die andere ist selbständig, hat einen dieser Essen-auf-Rädern-Lieferwagen, aus dem sie auf Baustellen Mittagessen verkauft. Die mit der schimmernden geriffelten Aluverkleidung, wissen Sie? Die schönen?»
«Wie heißen sie – Ihre Schwestern, meine ich – samt zweitem Vornamen, falls vorhanden.»
«Daisy und Kali. Nach meiner Großmutter mütterlicherseits und nach der Hindu-Göttin. Deshalb nennen wir sie schlicht Göttin. Was die zweiten Vornamen angeht, fragen Sie die beiden lieber selbst. Ich glaube nicht, dass sie angetan wären, wenn ich sie Ihnen verraten würde.»
«Die Todesgöttin?»
«Sie meinen Kali?»
«Ist Kali nicht die Todesgöttin?»
«Die Todesgöttin, ja, die blaue mit den soundso viel Armen und den dicken schwarzen Augenbrauen, die sie alle haben, •diese Göttinnen und Götter.»
«Klasse.»
«Auf so einem Poster im Headshop sah sie gut aus. Ziemlich schön und blau, und sie wussten nicht, wofür sie als Göttin stand, mit all ihren zusätzlichen Armen. Sie waren modern und hip und gegen alles Überkommene. Sie waren viel zu hip, um von irgendwas Ahnung zu haben.»
«Dann waren Ihre Eltern also so was wie Blumenkinder?»
«Von wegen ‹so was wie›! Wir fuhren jeden Sommer zu den Rainbow Gatherings. An jedem Vierten Juli bis ’93, zu einer Orgie von Pantheismus und Anarchie. Als Göttin auszog, sind sie nach ‹The Land› gegangen – in diese riesige Kommune unten in Tennessee. Mein Dad lernte meine Mom ’68 kennen, da lebte er als Fischer in Alaska. Sie arbeitete jeden Sommer in Anchorage.»
«In Anchorage? Als was?»
«Tja. Im Grunde war sie eine Hure.»
«Wahnsinn», war alles, was ich herausbrachte.
«Sie verdiente in zehn Wochen so viel, dass sie das ganze Jahr davon leben konnte. Ich meine – damals. Bevor sie sich kennenlernten.»
«Zehn Wochen …» Sie hatte so eine Art, was immer ich sagte, idiotisch klingen zu lassen, lange bevor ich es aussprach.
«Als sie sich kennenlernten, also, da hat sie mit der Teilzeithurerei aufgehört, und danach hatte sie nur noch ihre Erinnerungen.»
«Es könnte natürlich sein, dass Sie mir hier was vorflunkern.»
Das schien sie zu verletzen. «Warum sagen Sie das?»
Nun hatten wir wieder eine dieser Pausen, aber diesmal war nicht sie, sondern ich daran schuld, weil ich nicht damit gerechnet hatte, dass sie verletzt sein könnte.
«… weil ich wahrscheinlich nicht als leichtgläubig durchgehen will.»
«Klar. Das will niemand. Soll ich Ihnen sagen, was ich an Ihnen mag?»
«Das hängt davon ab.»
«Ich weiß. Aber ich mag Sie, weil Sie klein und zierlich sind. Alles an Ihnen ist genau richtig proportioniert. Auch Ihr Intellekt. Alles ist beweglich. Sie sind sehr autark. Was mögen Sie an mir?»
Dass ich es schon einmal ausgesprochen hatte, machte es nicht falscher, also sagte ich: «Ich bewundere Sie, weil Sie so wild sind.»
Prompt lachte sie mich aus.
Ich sagte: «O doch, wirklich. Sie sind unbeschwert. Selbst in vollkommener Ruhe sind Sie immer bereit, sich von den Elementen herumpusten zu lassen.»
Jetzt schien sie aus der Fassung gebracht. «Bislang haben Sie sich ja durch ziemliches Gestotter hervorgetan. Aber das hier klingt einstudiert. Entweder Sie ziehen diese Nummer öfter ab, oder Sie haben tatsächlich über mich nachgedacht. Eigens über mich.»
«Ich habe gestern Nacht von Ihnen geträumt.»
«Erzählen Sie.»
«Nein.»
«Haben Sie etwa von mir phantasiert?»
Um wieder einigermaßen zu mir zu finden, verschränkte ich die Arme vor der Brust. Drei Meter entfernt spielte das Radio noch immer Jazz. Flower stand noch immer. Ich saß noch immer auf dem Stuhl. Ich fühlte mich wie ein Schüler, ein begriffsstutziger zudem. «Auf jeden Fall sind Sie eine Naturgewalt. Woher
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