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Der Name der Welt

Der Name der Welt

Titel: Der Name der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Denis Johnson
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nicht.»
    «Sie auch nicht.»
    «Die allermeisten doch, würde ich sagen.»
    «Sie nicht. Sie hangeln sich nicht durchs Leben. Sie sind gefesselt. Sie sind an den Mast gebunden wie Odysseus.»
    «Das war ich, ja.»
    «Aber nun nicht mehr.»
    «Nein.»
    «Dann zeigen Sie mir doch Ihr Nun-nicht-mehr, Michael Reed.»
    «Das sind Sie. Sind Sie eine Sirene? Eine Hexe?»
    Mit einer gewissen Enttäuschung erkannte ich, dass ich zu voreilig, zu aufdringlich gewesen war. Ich wollte die Dinge, die ich zu sagen wusste und zu sagen vorhatte, die Dinge, die mir durch den Kopf gegangen waren, loswerden, weil ich hoffte, so schneller ins Unvorhersehbare aufbrechen zu können. Der Wind umtoste den Wagen.
    Sie sagte: «Ich bin eine Frau.»
    Und in dem Moment kamen wir an. Ich machte den Motor aus. Die Stille ließ unseren Stimmen Freiraum. Aber jetzt wussten wir einander nichts zu sagen.
    Sie hatte uns zu einem Schulgebäude aus orangefarbenen Ziegeln inmitten endloser bestellter Felder gelotst. Das alte Gemäuer wirkte gigantisch groß. Alles, was hier einen Maishalm überragte, war meilenweit zu sehen. Ein entfernt stehender dürrer Baum zeigte entschieden, dass er weit und breit das einzige klare Faktum war.
    Wir gingen die Stufen hoch. Flower öffnete die breite Eingangstür mit einem Schlüssel. Wie oft hatte ich mich nach Unterrichtsschluss in so ein stilles Schulgebäude geschlichen, um in diesen Bauten aus Beton und Stahl, die exakt unseren Gefängnissen gleichen, die in den Schließfächern verrottenden Lunchpakete und das durchdringende Bohnerwachs des Hausmeisters zu riechen? Dieses hier war in der Tat kleiner als die meisten, nur vier Klassenräume und ein Bürozimmer im Erdgeschoss, und es roch nach Zitrusfrüchten und Ölfarbe. Wir stiegen über eine kurze Treppe in den Keller hinab, und Flower steckte den Schlüssel wieder ein. Statt einer Handtasche trug sie einen kleinen Lederbeutel, der von einer Schnur zusammengezogen wurde. Sie drückte die Tür am hinteren Ende des Ganges auf, und was vom Tag noch übrig war, füllte den Raum wie Nebel. Das Gebäude machte einen unwiderstehlich verlassenen Eindruck.
    «Ist es nicht ruhig hier?»
    «So, dass ich am liebsten herumlaufen und Sachen zerschlagen würde.»
    «Das ist ein öffentliches Schulgebäude», sagte sie. «Ich denke, die Fenster könnten Sie einschlagen, aber alles andere ist massiv.»
    In ihrem Kelleratelier, vormals ein Klassenzimmer, setzte ich mich auf einen hölzernen Schulstuhl, auf den ich zunächst ein Taschentuch legte, denn die Sitzfläche war mit Farbe verschmiert. Alles war verschmiert, jede freie Fläche. Ich stellte meine Lebensmitteltüte auf den Fußboden neben ihr Telefon, das eigentlich schwarz, aber mit Fingerabdrücken in allen Farben übersät war. Durch Erdgeschossfenster auf Kopfhöhe kam genügend Licht herein. Ich beobachtete Flower, ohne viel wahrzunehmen. Im Raum verteilt bemerkte ich drei oder vier Leinwände auf Staffeleien, alle der Wand zugedreht, die Bilder nicht zu sehen.
    «Also! Was denken Sie?»
    «Es ist chaotisch, und hier spukt’s», sagte ich.
    «Die Schule ist geschlossen.»
    «Schon klar.»
    «Jetzt gehen alle auf eine Gesamtschule drüben in Hereford. Man kann sich über das staatliche Kunstkolleg um Räumlichkeiten hier bewerben.»
    «Und, dürfen Sie hier auch wohnen?»
    «Nein.» Sie war noch gar nicht richtig hereingekommen, stand halb in der Tür. Sie schaltete die Neondeckenlampen an. «Aber es ist bloß eine Verfügung», sagte sie. «Niemand prüft das nach.»
    Ich sagte ihr, ich hätte keinen Hunger, aber sie hatte welchen. Ich reichte ihr meine Tüte mit den Einkäufen, und keinen Muskel regend, verlegen und unerklärlich beschämt, fast ein bisschen weinerlich, weil ich mich nicht dort hingehörig fühlte, wartete ich, während sie zur Hausmeisterkammer am vorderen Ende des Ganges ging, um einen Topf mit Wasser zu füllen. Auf einem Einplattenkocher, der auf der von Wand zu Wand reichenden Anrichte inmitten eines Haufens Gerumpel stand, brachte sie Dinge zum Köcheln. Sie gab mir ein Messer, und ich stand auf, um ihr zu helfen. Ich versuchte die Farbe von der Klinge zu wischen, aber sie war eingetrocknet. Ich würfelte eine Karotte. Der Schwindel, der sich auftuende Abgrund von Schüchternheit verschwand. Ich zersäbelte eine Gurke. Ich fragte, was wir da vorbereiteten, und sie sagte, Misosuppe. Ich schnitt eine Zwiebel in Scheibchen. «Ich weine», sagte ich. «Ich auch», sagte sie. «Es ist eine gute

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