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Der Name der Welt

Der Name der Welt

Titel: Der Name der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Denis Johnson
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Zwiebel.»
    Offenbar wusste Flower einiges von meiner Vergangenheit, vom miesen Teil. «Weinen Sie eigentlich viel? Ihre Familie ist doch umgekommen, nicht? Also, weinen Sie?»
    «Hab ich getan, aber jetzt nicht mehr.» Wir lehnten einander zugewandt an der Anrichte wie an einem Kneipentresen. «Ich glaube, Sie erinnern mich an meine Frau», sagte ich zu ihr. «Und ich glaube, Sie erinnern mich an meine Tochter.» Wo wir schon dabei waren, alles auszusprechen. «Sie war erst dreiundzwanzig, als wir nach Washington zogen.»
    «Nicht Ihre Tochter.»
    «Meine Frau. Anne.»
    «War sie viel jünger als Sie?»
    «Zirka vierzehn Jahre. Ich war vierundvierzig, als sie unsere Tochter zur Welt brachte, und drei Wochen nachdem ich die beiden verloren hatte, wurde ich neunundvierzig. Nachdem sie tot waren.»
    «In welchem Alter sind sie gestorben?»
    «Huntley war fast fünf. Anne vierunddreißig.»
    «Und Sie sind jetzt –»
    «Ich bin dreiundfünfzig.»
    «Und ich sechsundzwanzig.»
    «Sie sind so jung», gab ich zu, «dass das irgendwie das Wichtigste an Ihnen ist.»
    «Ich bin weniger als halb so alt wie Sie.»
    «Tja. Noch. Nächstes Jahr sind Sie mehr als halb so alt.»
    «Sie werden jünger und jünger.»
    «Und wenn ich zweihundert bin? Dann sind es schon sieben Achtel.»
    Dieser Quatsch war reiner Selbstzweck. Ich war entzückt, wie leicht er mir von der Zunge ging.
    Sie sagte: «Schon komisch, wie diese mathematischen Zahlenspiele funktionieren, Michael Reed.»
    Noch immer ließ sie jeden ihrer Sätze seltsam enden. Bei der Nennung meines Namens sank ihre Stimme in die Tiefe, und schon ging ich mit unter. Jetzt sagte sie, und ich bin mir sicher, sie wollte mit mir flirten: «Lassen wir das mal einfach so vor sich hin köcheln.»
    Sie griff nach einem Laborantenkittel, der zusammengeknüllt auf der Theke lag, trat hinter eine große, unbemalte Leinwand auf einer Staffelei und ließ ihre Hose auf die Stiefeletten fallen.
    Ich nahm wieder auf meinem Stuhl Platz und sah ihr zu. Sie stand vor einer weißen Mauer. Die weiße Leinwand verbarg sie zwischen Schultern und Knien. Es gelang ihr, aus der Hose zu steigen, ohne die Stiefeletten auszuziehen. Sie zog sich die Bluse aus und hängte sie an die Staffelei. Dann schlüpfte sie in den grauen Kittel.
    Wir setzten uns an einen Klapptisch, schoben ihre bunt durcheinanderliegenden Tuben und Stifte beiseite und aßen die Suppe. Danach ging ich umher. An einer Wand entdeckte ich ihr Bett, nur eine Matratze auf dem Boden, mit einem quadratischen Kissen aus dunkler Seide, changierende Seide nennt man sie wohl. All ihre Bilder standen umgedreht an den Wänden.
    «Kann ich mal sehen, an was Sie arbeiten?»
    «Nein, ich glaube nicht. Die taugen noch nichts.»
    «Warum nicht?»
    «Mir fehlt das Talent.»
    Ich wollte mit ihr auf dieser Matratze liegen. Sehr müde sein und die ganze Nacht an ihrer Seite schlafen.
    Allmählich schieden sich all die Dinge, mit denen sie sich umgab, all die Materialien, die sie sammelte. Inmitten von Glassplittern und Spiegelscherben, von Streifen und Fetzen astronomischer, topographischer und nautischer Karten würde ich leben, hier in diesem versunkenen Atlantis. Für ein Atelier war es schlecht beleuchtet, nur von Norden und Westen her, mit Fenstern, die, obwohl hoch oben im Raum, knapp über dem Erdboden lagen. Oder ich würde ihr das schönste Atelier der Welt einrichten.
    Sie besaß mit Knöpfen gefüllte Glaskrüge und Dosen voller Murmeln. Es gab auch den tablettähnlichen Deckel einer großen Schachtel, auf dem vielfarbige Schnüre und Garne lagen, ein Stück pergamentene, silbern glänzende Birkenrinde sowie kleine Chrom- und Plastikbuttons, auf denen, soweit ich sehen konnte, Satellite, Coconut, Rolls-a-Lot, Susie, Ramon, Camaro stand. Ich war bereit, mich zu verlieben. Ich war willig, wenn sie mich ließe. Auf dem Fußboden an der Wand, zwischen den dort angelehnten Bildern, sah ich einen schwarzen, mit Fingerabdrücken in allen Farben des Spektrums übersäten Ghettoblaster stehen. Er war offenbar ständig an und spielte leise Musik. Ich meinte, einen alten Billy-Strayhorn-Song mit dem Titel «Blood Count» zu erkennen.
    Das Umfeld, in dem sie lebte, gefiel mir sehr. Diese ausgesuchten, nicht zu deutenden Objekte. Wieder fühlte ich mich enorm eingeschüchtert. Irgendeine meiner Reaktionen in Worte zu fassen wollte mir nicht gelingen.
    Etwas fehlte. Ihr fiel auf, dass ich mich suchend umschaute. «Was?»
    «Wo ist Ihr großes, altes

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