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Der Name der Welt

Der Name der Welt

Titel: Der Name der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Denis Johnson
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haben Sie diesen abgefahrenen Namen?»
    «Habe ich Ihnen im Kopf herumgespukt? Bin ich der Traum Ihrer schlaflosen Nächte?»
    «Na gut, ja. Das sind Sie bestimmt.»
    «Und was für Phantasien hatten Sie, Michael Reed?»
    «Ich weiß nicht. Dieses Gespräch kommt ihnen jedenfalls ziemlich nahe.»
    «Lassen Sie mich raten, an was Sie jetzt denken … Okay … Und die Antwort lautet nein.»
    «Nein?»
    «Nein, sie sind nicht rothaarig.»
    «Wer?»
    «Meine Schwestern. Sie haben braune Haare.»
    «Daran habe ich aber nicht gedacht.»
    «Bloß färbt Göttin ihre platinblond. Sie ist sehr L.A.-mäßig drauf. Schön – an was haben Sie dann gedacht?»
    «Das fällt mir jetzt beim besten Willen nicht mehr ein.»
    «Ich wusste, dass ich es schaffen würde, Sie aus dem Konzept zu bringen!»
    «Meinetwegen. Ich habe an Ihren Strip-Wettbewerb am Vierten Juli gedacht. Das ist schon in fünf Tagen.»
    «Würden Sie mir gern beim Rasieren helfen?»
    «Beim Rasieren?» Das brachte mich wirklich für zwei lange Sekunden aus dem Konzept. «Wäre das nicht ein bisschen verfrüht?» Obwohl ich mir insgeheim nur sagte: Du lieber Gott, ja.
    «Kommen Sie, wir setzen uns nach draußen.»
    Und ich stand auf und folgte ihr durch den kurzen Gang und die Hintertür in den Mittleren Westen hinaus. Sie nahm ein kleines Kästchen aus hellem Holz mit – Sequoia oder Zeder –, das wie eine Zigarrenkiste gebaut war, nur ohne Aufschrift. Als sie mich darüber rätseln sah, hob sie den Deckel an, um mir zu zeigen, dass es eine Reihe von Umschlägen enthielt, benutzte Umschläge in vielerlei Größen und Farben, aber zum Großteil von der Sorte, die für Briefe oder Grußkarten verwendet wird. Wir saßen nebeneinander im frischen Gras, sie mit ihrem Kästchen auf dem Schoß, und sie ging die Umschläge durch, als suchte sie nach einem bestimmten. Ihr Knie berührte leicht meine Hüfte. Alles schön und gut, aber es war nicht genug. Ich wollte etwas, das über eine körperliche Berührung hinausging. Etwas Unerwartetes. Etwas, das sich unmöglich vorhersehen ließ. Ich sah auf meine Armbanduhr: kurz nach sieben, die Sonne sank und schwoll, die Schatten waren lang und kühl, obwohl die Hitze noch auf dem Land lag. Ein Bananenmond stand über dem Horizont. Die eine oder andere Wolke weit entfernt im Norden; sie mochte sich auflösen oder Hagel und Tornados bringen. In diesen vier Jahren im Mittleren Westen hatte ich gelernt, jederzeit mit jeder Art Wetter zu rechnen. Gewissermaßen hatte ich das Wetter weit von mir gewiesen, mich allen Elementen verschlossen, sie mir zum Feind gemacht, da sie ja schließlich meine Frau und meine Tochter auf dem Gewissen hatten.
    Flower sagte: «Wollen Sie mir nicht eine Handschriftenprobe geben?»
    Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. «Ich weiß nicht recht.»
    «Schreiben Sie mir doch mal ein paar Worte auf. Einen Satz, eine Wendung, einen Namen, irgendwas.» Sie schloss das Kästchen und legte es mir auf den Schoß. «Haben Sie eine Visitenkarte?»
    Da spürte ich, dass wir uns tatsächlich auf das Unvorhersehbare, Unvorhersagbare zubewegten. Ich glaube nicht, dass ich mir die Mühe machen werde zu erklären, was ich damit meine. Stattdessen hoffe ich, dass es sich von selbst erklärt. Ich legte eine meiner Visitenkarten flach auf den Deckel des Kästchens und drückte mit dem Daumen die Mine meines Kugelschreibers heraus. Eine Wendung? Einen Namen? Ich schrieb Der Name der Welt auf die Rückseite der Karte und legte Flower das Kästchen wieder auf den Schoß.
    Sie sah sich an, was ich geschrieben hatte, und las es laut vor. Sie klappte den Deckel auf, schob die Karte in einen der Umschläge, verstaute ihn mit all den anderen in dem Kästchen und legte es sich wieder auf den Schoß. Ihr Kittel war bis obenhin zugeknöpft, schloss knapp unterhalb der Kuhle zwischen Hals und Brustbein ab. Dort waren unter ihrer blassen Haut ein oder zwei unerträglich dünne blaue Venen.
    Warum sie überhaupt diese Zeit mit mir verbrachte, konnte ich nur erraten, weil ich mich nicht zu fragen traute. Ich saß neben ihr und besah mir den tageshellen Mond, wollte sie küssen, traute mich aber nicht. Zugleich empfand ich einen mächtigen Drang aufzubrechen, mich von ihr oder von mir in dieser Lage zu entfernen, aber selbst dieser Gedanke schreckte mich, weil ich mir ausmalte, wie ich nach fünf Minuten Autofahrt bremste und überlegte, beschleunigte und hielt, vielleicht sogar inmitten der riesigen Felder wendete, der

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