Der Name der Welt
sagte kein Wort.
«Eine Bildgeschichte sozusagen – nicht nur eine Geschichte, auch ein Bild.»
Auf der Suche nach irgendetwas ging sie zwischen ihren Objekten umher, all den mannigfaltigen Muscheln, Schleierkrautsträußen und Sträußen aus Pfauenfedern, abstrakten Augen auf weißen Hälsen ähnlich, bunten Garnrollen, zu glänzenden Kugeln geballten Alufolien und Miniaturfläschchen, die man aus einem Fingerhut bis zum Überfließen füllen konnte, dunkel und durchscheinend, in Lila, Blau und Grün. Sie hatte ihre Welt zu einem Refugium für solche Dinge werden lassen, für Waggons und sonstiges Modellbahnzubehör, speziell die Loks, kleine, schwarze, schwere Loks; für Vogelnester, die türkis- und bernsteinfarben marmorierte Eierschalen bargen: Dinge, deren Vergänglichkeit durch ihre Kraft, Flowers Liebe zu erwecken, Einhalt geboten worden war. Objekte, die nicht zur späteren Verwendung in beschrifteten Schachteln lagerten, sondern gut sichtbare Plätze hatten, damit man sie entdecken und betrachten konnte. Damit Fremde auf sie stießen.
«Bevor ich dir die Geschichte meines Namens erzählen kann», sagte Flower, «muss ich dir, glaube ich, die Geschichte deines Gesichts erzählen.»
Als sie das sagte, ging es mir besser. «Eine traurige, hässliche Geschichte.»
«Ich will ja gar nicht! Aber es führt kein Weg daran vorbei.»
Sie hatte einen Zeichenblock gefunden, geheftet aus großformatigem Zeitungsdruckpapier. Sie setzte sich auf einen Hocker hinter der nächststehenden Staffelei, stellte den Block darauf, nahm einen dicken Bleistift von der Staffelei-Ablage und begann, so vermutete ich, zu zeichnen. Sie war Linkshänderin.
«Deine Lippen sind schmal. Bei dir gibt’s einen breiten Zwischenraum zwischen Nase und Oberlippe, wie bei einem Affen, aber ein richtiges Affengesicht hast du nicht, weil dafür dein Kinn zu klein ist und das Gesicht unter deinem Mund nicht weit genug nach unten reicht. Deine Nase ist auch klein und weist zu sehr nach oben. Man sieht zu viel von deinen Nasenlöchern. Das lässt deine Augen irgendwie stumpfsinnig und furchtsam wirken.»
Sie hielt einen Augenblick inne und spitzte ihren Stift an einem Stück Schmirgelpapier.
«Deine Augen sind sehr schön blau. Du hast hübsche volle Wangen und buschige, feingeschwungene Augenbrauen. Sehr konturiert sind sie. Dein Haar ist auch hübsch, dicht gelockt, eigentlich schon gekräuselt und mit vielen Farbabstufungen darin, braun und blond, ein bisschen blau und hauptsächlich grau. Und du bist klein.»
Flower stand auf und hielt den Zeichenblock eine gute Minute auf Armeslänge von sich weg, während sie mehrmals zwischen Skizze und Modell hin und her schaute. Sie zeigte mir das Blatt. Hingehuscht, aber erkennbar.
«Deine Hände sind klein. Ich habe dir schon gesagt, dass du sowohl innerlich als auch äußerlich von einer Zierlichkeit bist, die sehr anziehend wirkt, zumindest auf mich.»
«Ich danke dir. Glaube ich.»
«Die Geschichte deines Gesichts ist damit vorbei.»
«Ich danke dir noch mehr.»
«Jetzt die andere Geschichte. Einmal hat mich ein Mann in ein Lebkuchenhaus entführt.»
«Wie bitte?»
«Das wird die Geschichte meines Namens.»
«Ach so. Gut.»
«Als ich ein kleines Mädchen war, hat mich eines Tages ein Mann entfuhrt und in ein Lebkuchenhaus gebracht.
Er war so klein wie du, Michael, und auch seine Nase wies zu sehr nach oben, und sein Kinn war wie deins zu klein. Aber er hatte ein schmales Gesicht, sein ganzer Kopf war schmal, und seine Ohren waren groß und seltsam. Nicht wie deine. Deine sind hübsch.
Ich war vier Jahre alt. Eines Morgens kam er in den Garten hinter unserem Haus und entführte mich. Ich wurde erst nach Einbruch der Dunkelheit gefunden.
Er hat ein Lied gesungen», sagte sie.
«Hattest du Angst?»
«Nein. Und ich habe auch keine, wenn ich daran zurückdenke. Aber alle, denen ich die Geschichte je erzählt habe, hatten Angst.»
(Sie sah mich fragend an, suchte wohl nach meiner Angst. Bestimmt war sie da, und bestimmt ist sie ihr nicht entgangen.
Und doch entschlüpften mir diese Worte – ich hatte sie mir nicht zurechtgelegt und wusste nicht einmal, was sie bedeuteten – ich erinnere mich nur gerade wieder daran – ich habe sie im Ohr – ich sagte: «Ich kann immer noch nichts spüren.» Keine Antwort von Flower. Vielleicht hatte sie mich nicht gehört.)
«An viel erinnere ich mich nicht. Manchmal, wenn ich versuche, mir ins Gedächtnis zu rufen, was damals geschehen ist,
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