Der Nebelkönig (German Edition)
dein Vogelnest entwirren.«
16
Die Glocke läutete zum Abendessen.
Die beiden jungen Mädchen, die plaudernd am Fenster gesessen hatten, erhoben
sich und gingen zur Tür. »Weißt du, wer heute Abend zu Tisch geladen ist?«,
fragte Kaltrina.
Sallie schüttelte den Kopf und
schloss die Tür. Sie schritten durch den Korridor und hörten Klavierspiel aus
dem Salon, untermalt vom Klappern des Servierwagens, der in der Küche
vorbereitet wurde.
»Der junge Graf Silberwald«,
verriet ihr Kaltrina und verdrehte schwärmerisch die Augen. »So ein ansehnlicher
Mann. Eine so gute Partie wie ihn findet man selten. Wenn ich nicht schon
verlobt wäre ... Du Glückliche, du kannst ihm ganz unbesorgt schöne Augen
machen.« Sie lachte und umarmte Sallie.
»Lass doch«, sagte Sallie und
löste sich los. »Ich denke noch nicht ans Schöne Augen Machen.«
»Als ich so alt war wie du,
wusste ich schon längst, dass ich einmal Luan heiraten würde«, erklärte Kaltrina.
Sie öffnete die Tür zum Salon. Die Klaviermusik wurde lauter, und Sallie legte
einen Finger auf den Mund, damit ihre Cousine schwieg. Ihr Vater hasste es,
wenn eine musikalische Darbietung durch Schwatzen gestört wurde.
Die Mädchen setzten sich in
der Nähe der Tür auf zwei gepolsterte Stühle und falteten die Hände im Schoß.
Die Gesellschaft war klein, nur einige Nachbarn, die mit dem Kammerherrn Karten
zu spielen pflegten, und eine verwitwete Tante, die immer über das Jahresfest
hier im Herrenhaus weilte. Und der junge Graf Silberwald. Sallie sah ihn neben
ihrem Vater sitzen und fing seinen Blick auf.
Kaltrina hatte recht, er war
wirklich ansehnlich. Sallie senkte den Kopf und betrachtete ihre Hände.
Wenngleich er eine seltsame Augenfarbe hatte, ein goldenes Grau oder silbernes
Gelb – gar nicht wie ein Mensch, sondern wie ein Falke oder Wolf. Auch seine
Haare waren von einer strahlenden Farblosigkeit, irgendwo zwischen Blond und
Grau. Das war eigenartig für einen so jungen Mann, fand Sallie. Seltsam, aber
auch anziehend. Sie sah wieder auf und sah seinen Blick unverwandt auf sich
gerichtet. Er lächelte. Sallie errötete und lächelte zurück, ehe sie die Augen
wieder niederschlug.
»Er hat dich angelächelt«,
flüsterte Kaltrina durchdringend und erntete dafür einen strafenden Blick des
Kammerherrn.
»Pst«, machte Sallie und
blickte nicht mehr auf, bis der Musikmeister sein Spiel beendete, aufstand und
mit einer tiefen Verbeugung abwartete, was der Kammerherr wünschte.
»Sehr schön, Meister Lorenc,
sehr schön. Ich benötige Ihre Dienste heute nicht mehr«, sagte Sallies Vater,
sich erhebend. »Gehen wir zu Tisch.« Er zog seine bestickte Weste über dem
Bauch glatt und geleitete den Grafen zur Flügeltür, die ins Esszimmer führte
und im gleichen Moment von zwei Bediensteten geöffnet wurde. »Ich hoffe, ihr
mögt Fasan«, hörte Sallie ihn sagen, während die beiden Männer hinausgingen,
nach und nach gefolgt von den anderen Tischgästen.
Einen Moment blieb Sallie noch
neben den bodentiefen Fenstern stehen. Sie konnte sich an dem Ausblick nicht
sattsehen. Dämmerung hatte sich über den winterlichen Park gebreitet, und der
Schnee glitzerte im Licht, das durch die Fenster des Salons fiel. Sallie konnte
den Himmel nicht sehen, aber sie erahnte den Schimmer eines vollen Mondes
hinter den Wolken und seufzte. Kein Nebel. Wie seltsam und wunderbar es war,
einen Himmel ohne Nebelverhüllung über sich zu haben.
»Kommst du?«, fragte Kaltrina.
Sallie riss sich vom Anblick der weiten Landschaft los und nahm den Arm ihrer
Cousine. »Er beobachtet dich die ganze Zeit«, flüsterte Kaltrina ihr ins Ohr,
während sie zur Tafel schritten. »Ich glaube, du gefällst ihm.«
Sallie presste die Lippen
zusammen und setzte sich an ihren Platz. Der Diener schob ihren Stuhl heran und
ein zweiter servierte die Suppe. Die Tischgesellschaft begann unter heiterem
Geplauder zu speisen.
Erst als ihr Tischherr sie
ansprach, bemerkte Sallie, dass sie neben dem Grafen platziert worden war.
»Darf ich mich nach Ihrem werten Befinden erkundigen, gnädiges Fräulein?«,
fragte er.
Sallie erwiderte etwas
Nichtssagendes und rührte in ihrer Suppe herum. Am anderen Ende der Tafel
erklärte ihr Vater seiner Tischdame irgendwelche Finessen eines Kartenspiels.
Das Essen nahm seinen
Fortgang, aber Sallie bemerkte kaum, was sie aß.
Schließlich wurde die Tafel
aufgehoben und man begab sich in den Salon, wo die Herren rauchten und die
Damen
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