Der Nebelkönig (German Edition)
an.
»Meine Lektüre«, sagte Sallie
und bemühte sich, ihre davonfliegenden Gedanken zu ordnen. »Ich lese, ich lese
...«
»Bitte ein wenig mehr
Contenance, mein Kind«, mahnte der alte Mann. »Sammle deine Gedanken, überlege
dir, was du sagen möchtest, und dann sprich freiheraus, wie du es gelernt
hast.«
Sallie schloss kurz die Augen.
Sie war verwirrt. Der Traum, aus dem Uhl sie gerissen hatte, war so echt
gewesen, dass sie einen Moment nicht gewusst hatte, ob sie nun wirklich wach
war und hier in der schönen alten Bibliothek saß, ihrem Hauslehrer gegenüber.
Sie blinzelte. Durch das hohe Fenster aus buntem Glas fiel das matte Licht
eines Wintertags und malte verschwommene bunte Flecke auf die Bücherregale.
Sie räusperte sich. »Ich lese
die Sage vom Wolfskönig«, begann sie.
Uhl nickte ermunternd, dann
sah er ärgerlich auf. »Was ist denn?«, rief er.
Die große Tür zur Bibliothek hatte
sich geöffnet und ein Dienstmädchen war eingetreten. Sie knickste. »Der gnädige
Herr fragt nach dem gnädigen Fräulein«, sagte sie leise. Dann knickste sie
wieder und schloss die Tür.
Uhl räusperte sich mehrmals.
»Nun gut, nun gut«, fuhr er fort. »Ich hatte vergessen, dass heute deine Cousine
zu Besuch kommt. Also, dann ist der Unterricht für heute beendet, mein Kind.
Lauf, lass den gnädigen Herrn nicht warten.«
Sallie schlug das Buch über
dem Wolfskopf zu. Der Anblick verursachte ihr eine Gänsehaut, ohne dass sie
hätte sagen können warum. Sie stand auf und schob ordentlich ihren Stuhl an den
großen Tisch, wobei ihr Blick durch die Bibliothek wanderte. Sie hielt inne.
»Ist das Zimmer kleiner geworden?«, entfuhr es ihr, und kaum waren die Worten
heraus, biss sie sich auf die Zunge.
Uhl sah sie verständnislos an.
»Bitte, mein Kind?«
»Nichts«, sagte Sallie. »Ich
habe nur – in meinem Traum war die Bibliothek viel größer.«
Der alte Hauslehrer lachte und
stand auf. Er legte ihr seine Hand auf die Schulter. »Diese Bibliothek ist wohl
die größte in der ganzen Grafschaft«, erklärte er. »Eine größere findest du
wahrscheinlich nur im Erzbischöflichen Palast in der Residenz. Nun säume nicht
länger, Sarah. Man erwartet dich.«
Sallie ging zur Tür und legte
die Hand auf die Klinke. Sie zuckte in der Bewegung zusammen und riss hastig
die Hand weg, aber die Klinke lag glatt und harmlos unter ihren Fingern. Mit
einem nervösen Lachen öffnete Sallie die Tür.
Auch der Korridor schien
geschrumpft zu sein. Sallie lief über den dunklen Boden und hatte schon nach
wenigen Schritten die Treppe erreicht, die nach unten in die Halle führte. Sie
schenkte den Ölgemälden an den Wänden, von denen sie perückentragende Herren
und blass gepuderte Damen ansahen, keine Beachtung, aber eine kleine Stimme in
ihrem Inneren wisperte: Die sollten nicht hier hängen, sondern im Südflügel.
Sallie rannte die Treppe
hinunter. Unten stand eine schwarz gekleidete Frau und sah ihr missbilligend
entgegen. »Wir rennen nicht, junges Fräulein, das ist höchst unschicklich«,
sagte sie scharf.
»Frau Lulezime!«, rief Sallie
verblüfft.
»Ja, wer sonst?«, erwiderte
die Wirtschafterin – nein, erinnerte sich Sallie verwirrt, ihre Gouvernante.
Frau Lulezime war ihre Gouvernante und Uhl, der Bibliothekar, war ihr
Hauslehrer.
Sie schüttelte den Kopf. Die
Halle, in der sie mit Frau Lulezime stand, war ihr unbekannt. Dort war die Tür,
die hinausführte. Dort ging es in den Dienstbotentrakt, wo sich auch die Küche
befand. Dort war der Durchgang zum Salon, und dort hinten war das große
Gartenzimmer, in dem gelegentlich Gesellschaften stattfanden. Sie kannte jeden
dieser Räume, denn immerhin war sie in diesem Haus aufgewachsen, aber trotzdem
fühlte sie sich so fremd, dass es sie schaudern machte. Sallie jammerte leise.
Die Gouvernante sah sie bei
aller Strenge besorgt an: »Ist Ihnen nicht wohl, Fräulein Sarah? Sie sehen
blass aus.«
»Ich glaube, ich habe
Kopfschmerzen«, sagte Sallie.
Frau Lulezime legte eine kühle
Hand auf ihre Stirn. »Sie scheinen ein wenig Temperatur zu haben. Ich sage den
Herrschaften, dass sie beim Tee auf Ihre Gesellschaft verzichten müssen. Gehen
Sie auf Ihr Zimmer, Fräulein Sarah, ich schicke Ihnen den Apotheker.«
Sallie ging die Treppe wieder
hinauf und den Gang auf der Gartenseite hinunter, bis sie ihre Zimmertür
erreicht und das Zimmer betreten hatte. Dort stand sie eine Weile mit geschlossenen
Augen, während Bilder durch ihren Kopf tanzten, die ein völlig
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